Winfried Kretschmann zu Kita, Bildung, Inflation und Strukturwandel in Baden-Württemberg

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Winfried Kretschmann (Grüne) ist seit bald 13 Jahren Ministerpräsident von Baden-Württemberg. Die aktuelle Zeit dürfte zu den schwierigsten Phasen seiner Amtszeit gehören.

In einer Demokratie, in der nicht gestritten wird, haben wir keine Demokratie. Aber wir müssen dahin kommen, dass wir die Dinge wieder durchdenken und durchdiskutieren und nicht spontan denken "das ist blöd und das ist gut". Meistens sind die Dinge nicht so schwarz-weiß – es gibt Grautöne und es gibt Farben.

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Die Wirtschaft, auch in Baden-Württemberg, steckt in der Rezession, viele Menschen sind unzufrieden mit der Regierungsarbeit im Bund und im Land. Und: Die Ablehnung gegenüber der Demokratie nimmt in vielen Teilen der Bevölkerung besorgniserregend zu. 

Erfolg der AfD und Demonstrationen der Zivilgesellschaft

Die AfD und deren Umfragewerte beunruhigen Kretschmann, die Gegen-Demonstrationen in Baden-Württemberg sieht er jedoch als wichtiges Signal und fordert die Zivilgesellschaft auf, sich wichtige Fragen zur AfD und deren Programm zu stellen. 

Wir müssen noch deutlicher machen, worum es eigentlich geht: nämlich um unsere verfassungsmäßige Ordnung. Wollen wir diese liberale Demokratie weiter so haben, mit der besten Verfassung, die Deutschland je hatte, oder wollen wir woanders hin? In eine autoritäre Demokratie, wie Ungarn, oder gar in Diktaturen? Darum geht es, und das muss man sehr bedacht und klug machen.

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Mögliches Parteienverbot: Kretschmann zeigt sich kritisch 

Letztlich kann die Demokratie nur durch Demokraten verteidigt werden. Deswegen sind diese Demonstrationen gerade so wichtig. Sie sind wichtig, weil sie nicht Parteien organisiert haben. Sie kamen aus der Gesellschaft heraus, das ist das starke Signal.

Welche Fehler haben die demokratischen Parteien gemacht?

Dass seine Partei und die anderen demokratischen Parteien in der Vergangenheit Fehler gemacht haben, zu weit weg vom Bürger gearbeitet haben – dem stimmt Kretschmann zu. Viele Parteien seien in ihren Kommunikationsmustern noch nicht in der Zukunft angekommen, die AfD nutze die sozialen Medien sehr viel besser. Dennoch stehe die AfD für eine Richtung, in der Kretschmann Baden-Württemberg und auch Deutschland nicht sieht.

Womit kommt die AfD jetzt daher? Mit gestern. Die Partei hat nur einen Gang, das ist der Rückwärtsgang. Die Partei will den Leuten sagen: Früher war es ja ganz toll, da müssen wir zurück. Das gab es aber in der Menschheitsgeschichte noch nie, dass man einfach zurück konnte. Wir müssen die Zukunft gestalten und nicht die Vergangenheit.

Ökologische und soziale Erneuerung von Baden-Württemberg

Kretschmanns selbst gesteckte Zielsetzung als Ministerpräsident ist es, Baden-Württemberg "ökologisch und sozial zu erneuern". Der 75-Jährige gilt inzwischen längst als der bürgerlich-konservative unter den BW-Grünen — jener Partei, die er 1979 selbst mit gründete. Eine breite Debatte um Gendersprache "bringt nichts", sagte er kürzlich und wies nach den desolaten Ergebnissen der PISA-Studie in einem Interview auch die Eltern auf ihre Eigenverantwortung in Sachen Bildung hin.

Wir brauchen wieder mehr Erziehungspartnerschaft zwischen Elternschaft und Lehrerschaft. Wenn sich die Eltern besser an die Empfehlung der Fachleute halten würden, hätten wir das Problem nicht.

Baden-Württemberg

"Wissensdurst" fördern Kretschmann fordert mehr Eltern-Engagement bei der Bildung

Eltern müssten sich um den Wissensdurst der Kinder bemühen, findet der Ministerpräsident. Doch ob ein Kind in der Schule Erfolg hat, hängt in BW ohnehin stark vom Elternhaus ab.

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Verbindlichere Grundschulempfehlung und Rückkehr zu G9

Eine Rückkehr zur verbindlichen Grundschulempfehlung werde es wohl nicht geben, so Kretschmann. Es bleibe eine Empfehlung, sie werde aber wohl verbindlicher gemacht, möglicherweise mit einer zusätzlichen Prüfung. Dies sei noch in der Debatte. 

Nach fast 20 Jahren wird Baden-Württemberg wohl zum 9-jährigen Gymnasium zurückkehren. Dafür gebe es deutliche Mehrheiten, so Kretschmann. Oft heißt es, bei G8 bliebe die Persönlichkeitsentwicklung zurück, da die Stundenpläne sehr vollgepackt sind. Das wird mit einer Rückkehr zu G9 aber nicht automatisch gelöst, wenn die Menge des Lehrstoffs zunimmt. Auch Kretschmann sieht die Notwendigkeit neue Fächer einzuführen: 

Wir brauchen Informatik im weitesten Sinne. Unsere Kinder und Jugendlichen kommen in eine völlig andere Welt. Es braucht eine hohe Urteilskraft, um zum Beispiel Falschmeldungen zu erkennen. Darauf müssen wir die jungen Menschen vorbereiten.

Es müsse allerdings geprüft werden, an welchen anderen Stellen Lernstoff auch weggelassen werden kann, da man nicht "immer mehr draufpacken" könne, so der Ministerpräsident. Sonst mache man "zu viel und nichts richtig".

Bildung in Baden-Württemberg: auf Grundschulen kommt es an

Auf die Frage, was denn im Zusammenhang mit G8 oder G9 wichtiger sei, eine reifere Persönlichkeit oder die Möglichkeit, potentiell früher auf den Arbeitsmarkt zu kommen, sagt Kretschmann, der entscheidende Punkt liege woanders:

Über 20 Prozent können nicht rechnen, lesen und schreiben, wenn sie aus der Grundschule kommen. Das Zentrum unserer Probleme ist die frühkindliche Bildung und die Grundschule. Nichts und niemand wird diese Koalition davon abbringen, dass wir unsere ganze Kraft darauf verwenden, dass das dort besser wird.

Was tut Baden-Württemberg gegen den Mangel an Kita-Plätzen? 

105 Millionen Euro will das Land zum Ausbau von Kita-Plätzen zur Verfügung stellen. Reicht das aus, um den massiven Mangel zu beheben? "Für Kitas sind in erster Linie die Kommunen verantwortlich", betont der Ministerpräsident und ergänzt: 

 Es ist keine Frage des Geldes, ob wir genug Personal haben. Es braucht Menschen, die es machen wollen und machen. Wir haben einen dramatischen Fachkräftemangel und da ist er besonders gravierend, denn: wenn die Eltern, die arbeiten wollen, keine gute Kinderbetreuung haben, können sie das nicht in dem Maße und dann entsteht wieder neuer Fachkräftemangel.

Automobilindustrie und Landwirtschaft in Baden-Württemberg

Den Strukturwandel in der Automobilindustrie, dem Steckenpferd Baden-Württembergs, sieht Kretschmann als Hauptaufgabe für eine gute Zukunft des Landes an. Dieser Wandel müsse bewältigt werden.

Nachdem die Bundesregierung Teile von Agrarsubventionen auf Grund des Haushalts-Urteils des Bundesverfassungsgerichts zurücknahm, brannten auch im Land Proteste der Bauern auf. In Baden-Württemberg gibt es bereits seit 2022 den sogenannten "Strategiedialog Landwirtschaft".

Bei den Preissteigerungen der Lebensmittel muss man sich fragen, bei wem in der Wertschöpfungskette das wirklich ankommt, wer davon profitiert. Das sind leider oft nicht die Bauern. Also müssen wir doch ändern, dass die, die letztlich produzieren, auch von den Erträgen leben können. In Wirklichkeit liegen die Probleme tiefer, der Agrardiesel hat nur das Fass zum Überlaufen gebracht.

Kretschmann will bis zum Ende der Legislaturperiode regieren 

Ob es eine Altersobergrenze für aktive Politiker geben sollte, da sei er der falsche, um das zu beantworten, meint der 75-Jährige. Seine Entscheidung für eine dritte Amtszeit anzutreten habe er sich lange überlegt.

Das Amt verlange "den ganzen Mann". Würde er spüren, dass er des Amtes müde sei, würde er aufhören, so Kretschmann. Dies sei aber nicht der Fall. Vorausgesetzt er bleibe gesund und fit, möchte er das Amt bis zum Ende der Legislaturperiode weiterführen und begründet das auch mit dem Verhalten der CDU: 

Ich habe jetzt das Amt und werde das bis zum Ende auch machen, da sich der Koalitionspartner ja weigert – wenn ich zurücktreten würde, würde er keinen Nachfolger wählen in dieser Legislaturperiode. Fand ich jetzt auch nicht grad nett, aber ist jetzt halt so.

Die Bevölkerung könne sich darauf verlassen, dass er nicht schon inhaltlich Abstand genommen habe. Er gehe das Amt jeden Tag mit voller Energie und Kraft an, so Winfried Kretschmann. 

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