Fachkräftemangel in der Pflege: Was muss sich in Deutschland ändern?

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MODERATOR/IN
Jens Wolters
Moderator Jens Wolters aus dem SWR1 Team moderiert regelmäßig die Sendung SWR1 Leute mit spannenden und interessanten Gästen (Foto: SWR)

Immer mehr Menschen in Deutschland brauchen Pflege, aber es herrscht Fachkräftemangel. Gaby Schröder leitet das Alexander-Stift und erklärt in SWR1 Leute, was sich ändern muss.

Ich sehe uns jetzt schon im Pflegenotstand. Ich bin jetzt 15 Jahre im Bereich Altenhilfe und Altenpflege. Es spitzt sich immer mehr zu. Ich würde sagen, jetzt ist es eher fünf nach zwölf als fünf vor zwölf.

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Das Alexander-Stift gehört zur "Diakonie Stetten" und hat in Baden-Württemberg an über 20 Standorten Einrichtungen für ältere Menschen. Es erwirtschaftet mit über 1.000 Mitarbeiter:innen einen Umsatz von über 50 Millionen Euro. "Motivierte Mitarbeiter, die Wissen, Herz und ganz viele Tugenden mit in die Arbeit einbringen", sagt Geschäftsführerin Gaby Schröder. Mitarbeiter:innen, die 800 Pflegeplätze betreuen – "ich spreche da lieber von über 800 Menschen, die bei uns versorgt werden".

Sie sieht die negative Entwicklung in der Pflege Tag für Tag und ist sich sicher, dass die Einstiegshürde "Mittlere Reife" mit dafür verantwortlich ist. Das könne sich eine alternde Gesellschaft nicht mehr leisten. Schröder hält es für grundlegend falsch, engagierte junge Menschen ohne Realschulabschluss von der Ausbildung auszuschließen.

Pflege ist nicht nur "Altenpflege"

Pflege beschränkt sich für Gaby Schröder – auch durch ihre langjährige Erfahrung in der Jugendhilfe – nicht nur auf die Pflege alter Menschen:

Es braucht eine Vielfalt und Auswahlmöglichkeit für ältere Menschen: Wie wollen sie leben? Und ein zweiter Standpunkt sind die großen Gestaltungsmöglichkeiten, auch jungen Menschen – Menschen mit Behinderung – Chancen zu bieten, am Leben teilzunehmen.


Da gefällt ihr, sagt sie, das Motto der Diakonie Stetten: "Für eine Welt, in der niemand ausgegrenzt wird". Ein Beispiel, bei der ihr regelrecht das Herz aufgehe: Eine junge Frau mit Handicap, die an einem sogenannten "Außenarbeitsplatz" arbeitet und sagt, sie freue sich jeden Tag darauf, die Spülmaschine im Pflegeheim ein- und auszuräumen.

Das sei eine Chance, Menschen in Beschäftigung zu bekommen, die im "ersten Arbeitsmarkt" keinen Fuß fassen könnten, aber deren "zwei helfende Hände mehr" für das Pflegeheim eine wichtige Unterstützung sind.

Was ist dran am Satz "Pflege kann jeder"?

Diesen Satz hört Gaby Schröder immer wieder, aber er stimme nicht, sagt sie ganz deutlich.

Wir brauchen die Menschen, aber wir brauchen auch gut ausgebildete Menschen.

Pflegepersonal brauche gute Nerven und eine Spur an Humor. Dazu hohe kommunikative Fähigkeiten, hohes fachliches Wissen – wenn Wunden behandelt oder Medikamente gegeben werden – und eine "ganz hohe, extreme Flexibilität".

Die Bewohner brauchen Menschen, die wirklich zuhören, die "das Herz an der richtigen Stelle haben", die hohe empathische Fähigkeiten haben. Und dann auch viel zurück bekommen, wenn man in der Früh ins Zimmer kommt und wird angestrahlt.

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Kommt der richtige Pflegenotstand erst noch?

Bis zu 280 Tage dauert es, bis Gaby Schröder eine frei gewordene Stelle neu besetzen kann, bedingt auch durch die ländlichen Standort der Alexander-Pflege. In der Stadt sei das nicht ganz so problematisch.

In Baden-Württemberg haben wir hohe Personalschlüssel im Vergleich zu anderen Bundesländern, aber wir können nicht allen Menschen Pflegeplätze anbieten – es stehen Zimmer leer. Wir haben Standorte, da stehen 30 bis 40 Prozent leer. Ich könnte locker 20 bis 40 Menschen einstellen.

Neben dem aktuellen Pflegenotstand identifiziert Gaby Schröder aber noch ein weiteres Problem: die demographische Entwicklung. Den steigenden Bedarf an Pflegeplätzen könne man gut vorausberechnen, aber nicht vergessen dürfe man, dass 60 Prozent der Menschen, die in der Pflege arbeiten, über 50 Jahre alt sind. Das bedeutet, dass die "Babyboomer" bald in Rente gehen und damit eine große Anzahl an Pflegekräften wegfallen.

Personalmangel in den Pflegeberufen

Der Personalmangel hat auch schon dazu geführt, dass ein Haus des Alexander-Stifts geschlossen werden muss. "Da reißt es einem den Boden unter den Füßen weg", sagt Gaby Schröder.

Ich will keine Berufsgruppe schlecht machen. Aber ein Antrag in einer Behörde kann mal zwei, drei Tage liegen bleiben oder in der Produktion ist mal ein Produkt weniger hergestellt. Aber wir arbeiten mit Menschen: Das, was zu diesem Zeitpunkt notwendig ist, muss auch getan werden – die Wunde muss versorgt werden, der Bewohner muss geduscht werden.

Im Umkehrschluss bedeute das: Wenn eine Pflegekraft ausfällt, dann muss jemand aus der Freizeit oder dem Urlaub einspringen. "Dass die Pflegekräfte das mitmachen", davor hat Gaby Schröder den größten Respekt.

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Die Einstiegsvoraussetzungen im Pflegeberuf sind in den vergangenen Jahren schwieriger geworden. Deshalb ist es Gaby Schröder wichtig, sie herunterzusetzen. Aktuell benötigt man für die Ausbildung zur  "Pflegefachfrau/Pflegefachmann" die Mittlere Reife, vor 2019 genügte der damalige Hauptschulabschluss. Für Menschen aus dem Ausland kommt noch der Nachweis des "B2" Sprachlevels dazu.

Ich glaube, es kommt darauf an, was wir tun wollen in der Pflege. Wir brauchen Menschen für die Grundpflege, wir brauchen aber auch den Studiengang Pflege, weil mir die Professionalisierung wichtig ist. Pflege ist ein verantwortungsvoller Beruf: Wir haben es mit Medikament und mit Analysen zu tun. Da brauche ich dann jemanden, der nochmal mehr fachliches Wissen hat.

Pläne, den Pflegenotstand in den Griff zu bekommen, gibt es genug. Anwerbung ausländischer Fachkräfte, eine zentrale Anlaufstelle für Bewerber:innen oder die Senkung von Bearbeitungszeiten der Anträge von 12-18 auf fünf Monate. "Alles, was schneller geht" befürworte sie, sagt Schröder.

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Ich könnte doppelt so viele Pflegeplätze belegen und Menschen aufnehmen. Angehörige sind der Verzweiflung nahe, weil man keinen freien Pflegeplatz findet. Mir geht's insgesamt zu lange. Wenn Menschen bereit sind, aus dem Ausland nach Deutschland zu kommen, dann brauchen wir's schnell – wir haben jetzt den Pflegenotstand."

Vorstellen kann Gaby Schröder sich auch, an die Schule fest verpflichtend ein weiteres Jahr als "Gesellschaftsjahr" anzuhängen. Kritikern, die sagen "dann stehen die Menschen uns erst ein Jahr später für den Arbeitsmarkt zur Verfügung" entgegnet sie, dass in diesem Jahr Fähigkeiten erworben werden, die der Berufswelt später zu Nutze kommen.

Können wir uns die Pflege bald nicht mehr leisten?

In Baden-Württemberg zahlen Bewohner:innen in einem Pflegeheim durchschnittlich einen Eigenanteil von 2.900 Euro pro Monat. Fünf Jahre zuvor lagen diese Kosten bei lediglich der Hälfte. Das System der Altenpflege sei von der Finanzierung her ein krankes System, meint Gaby Schröder. Man müsse überlegen: Wie ändert man die Finanzierung?

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Pflege ist eine Daseinsvorsorge, ist auch eine Aufgabe vom Staat, ist ein Grundrecht, in Würde alt zu werden. Wenn wir alle zusammen in der Gesellschaft überlegen "Was ist mir Pflege wert?" – das ist für mich auch nicht nur eine Aufgabe der Altenpflege – dann können wir überlegen, "wie gelingt uns das?". Jeder Mensch kann sich in der Pflege oder im Pflegeheim engagieren: Ich spiele mit jemandem Schach, ich lese jemandem aus der Zeitung vor oder ich gehe mit jemandem spazieren. Das ist eine Qualitätsverbesserung für die Bewohner.

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