Eine Krankenschwester läuft mit medizinischem Gerät auf der Corona-Normalstation den Gang entlang. (Foto: dpa Bildfunk, picture alliance/dpa/dpa-Zentralbild | Bodo Schackow)

Krise als Normalzustand

Pflegenotstand in BW: Experten warnen vor Versorgungsengpässen und Systemkollaps

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Heidrun Lieb

Pflegekräfte sind chronisch überlastet, überall fehlt Personal. Die Politik reagiert - doch nicht immer zielgerichtet. Gibt es zu viele Krankenhäuser in Baden-Württemberg?

Pflegerinnen und Pfleger sind dauerhaft an ihrer Belastungsgrenze, zeigen SWR-Recherchen. Das führt zu großem Frust unter dem Pflegepersonal - und könnte für die Gesundheits-Versorgung in Baden-Württemberg fatale Folgen haben. Expertinnen und Experten warnen vor Engpässen und einem Kollaps des Systems.

Pflegekräfte arbeiten bis ans Ende ihrer Kräfte

"Wir arbeiten, bis wir nicht mehr können. So wurden wir erzogen", sagt Intensiv-Krankenpflegerin Veronika Meyer aus dem Raum Stuttgart. Aus Sorge vor negativen Konsequenzen möchte sie nicht erkannt werden, ihr richtiger Name ist der Redaktion bekannt. Vor kurzem war sie krank - mit der Folge, dass drei Betten für Patienten gesperrt wurden. Das schlechte Gewissen trieb sie trotz Erkrankung schon am Folgetag zurück zur Arbeit. "Wir sind nicht darauf gedrillt, auf uns zu schauen", sagt Meyer fast entschuldigend.

"Wir arbeiten, bis wir nicht mehr können. So wurden wir erzogen."

"Die Kollegen vor Ort sind desillusioniert", beschreibt Markus Mai die Stimmung unter den Pflegekräften. "Sie erleben jeden Tag den Mangel." Mai ist Präsident der Landespflegekammer Rheinland-Pfalz - der einzigen Kammer in Deutschland. SWR-Recherchen haben aufgezeigt, welche gravierenden Folgen der mangelnde Organisationsgrad der Pflegekräfte für ihre Arbeitsbedingungen hat.

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Corona hat die Situation für Pflegepersonal in BW weiter verschärft

"Die Belastung ist enorm hoch", bestätigt auch der Betriebsratsvorsitzende Jens Mohr der SLK-Kliniken Heilbronn dem SWR. Zu dem immer weiter steigenden Dokumentationsaufwand und dem Personalmangel komme nun erschwerend hinzu, dass viele Corona-Patienten älter und dement seien. "Sie laufen einfach raus und die Pflegekräfte müssen sie wieder einfangen", beschreibt Mohr die Zusatzbelastung im Alltag. "Das ist wie im Altenheim, man muss ständig auf sie aufpassen", sagt er. Wenn noch Krankheitsausfälle dazu kommen, seien die Pflegekräfte teils sehr ausgelaugt.

Mohr ist selbst Fachkrankenpfleger für Anästhesie und Intensivmedizin und seit mehr als 35 Jahren in dem Beruf. Er beobachtet bei den Krankenpflegerinnen und Krankenpflegern "ganz viel Frust". Sie fühlten sich von der Politik nicht ernst genommen.

"Im Autoindustriestaat ist das Auto wichtiger als die Arbeit im Krankenhaus."

Krise als Normalzustand: Pflegepersonal an Belastungsgrenze

Die verheerende Situation der Pflege wird auch von wissenschaftlicher Seite bestätigt. "Pflegefachpersonen arbeiten seit Jahren an der Belastungsgrenze und in einer Art Ausnahmezustand, den aber niemand mehr so wahrnimmt oder bezeichnet, da es quasi schon zur Normalität geworden ist", sagt Karin Reiber, Professorin an der Fakultät Soziale Arbeit, Bildung und Pflege der Hochschule Esslingen. Sie beschreibt die Situation deshalb mit "Krise als Normalzustand".

Diese Dauerbelastung könnte nach Einschätzung von Silvia Hooks, Direktorin Pflege- und Prozessmanagement am RKH Klinikum Ludwigsburg-Bietigheim, fatale Folgen haben. Seit der Pandemie hätten rund 20 Prozent der Pflegekräfte ihre Arbeitszeit reduziert oder sind aus dem Beruf ausgestiegen. Hooks warnt: "Wenn nichts geschieht, wird dies zunehmen und wir werden ernsthafte Versorgungsengpässe erleben."

Landespflegekammer RLP: Der Kollaps steht noch bevor

In einer von der Landespflegekammer Rheinland-Pfalz beauftragten Umfrage des Allensbach-Instituts für Demoskopie erklärten 76 Prozent der Beschäftigten, sie würden zumindest manchmal mit dem Gedanken spielen, auszusteigen. Für den Präsidenten der Landespflegekammer Rheinland-Pfalz ist diese Zahl "hochalarmierend", weil die Zahlen kontinuierlich stiegen.

Mai ist überzeugt: "Der richtige Kollaps steht uns noch bevor." Denn in etwa zehn Jahren würden 35 Prozent der Pflegekräfte aussteigen, weil sie in Rente gehen. Gleichzeitig steigt die Zahl der pflegebedürftigen Menschen in Deutschland. "Das müssen wir erst einmal kompensieren", so Mai.

Wie können neue Pflegefachkräfte in BW gewonnen werden?

"Wir müssen die junge Generation wieder für den Pflegeberuf begeistern. Das tun wir übrigens nicht, indem wir immer nur jammern und schlecht über den Beruf sprechen", meint Susanne Scheck, Vorsitzende des Landespflegerats Baden-Württemberg. Ebenso müsse man bereits ausgeschiedenes Personal überzeugen, zurückzukommen.

Dabei gehe es nicht in erster Linie um ein höheres Gehalt. Laut einer jüngst veröffentlichten Studie der Bremer Arbeitnehmerkammer sei es viel wichtiger, mehr Zeit für gute Pflege zu haben, verlässliche Dienstpläne, mehr Wertschätzung von Vorgesetzten, eine bedarfsgerechte Personalbemessung sowie auf Augenhöhe mit der Ärzteschaft zu arbeiten.

Was hat die Politik bisher für Pflegekräfte getan?

Aus Sicht von Markus Mai von der Landespflegekammer Rheinland-Pfalz habe der ehemalige Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) durchaus positive Dinge umgesetzt. Mai nennt als Beispiel, dass die Pflege aus dem sogenannten Fallpauschalen-System herausgenommen wurde. Damit steht für die Pflege mehr Geld zur Verfügung. Ebenso ist 2018 die sogenannte Pflegepersonaluntergrenzen-Verordnung (PpUGV) für pflegeintensive Bereiche in Krankenhäusern in Kraft getreten. Hier ist beispielsweise festgelegt, dass in der Intensivstation während der Tagschicht eine Pflegekraft maximal zwei Patienten betreut, nachts maximal drei.

Insgesamt habe die Politik durchaus erkannt, dass die Rahmenbedingungen für die Pflegeberufe verbessert werden müssten, meint auch Matthias Einwag, Hauptgeschäftsführer der Baden-Württembergischen Krankenhausgesellschaft (BWKG) auf SWR-Anfrage. "Die bisherigen Maßnahmen greifen aber oft zu kurz, denn durchschlagende Lösungen bei der Personalausstattung, der Finanzierung und der dringenden Reduzierung der überbordenden Bürokratie gibt es bislang noch nicht", bedauert Einwag.

Personaluntergrenzen-Verordnung schwer umsetzbar

Auch wenn die PpUGV das Pflegepersonal vor zu hoher Belastung schützen soll - in der Praxis ist sie manchmal schwer umzusetzen, da sie nicht das Problem des Fachkräftemangels löst. Wenn nicht genügend Pflegepersonal vorhanden ist, meldet das Krankenhaus die Betten beim Rettungsdienst ab. Werden dennoch Patientinnen oder Patienten eingeliefert, muss das Krankenhaus seiner im Gesetz vorgeschriebenen Behandlungsverpflichtung nachkommen und auch diese Erkrankten behandeln.

"Dann werden die Fachkräfte stärker belastet als in den Pflegepersonaluntergrenzen vorgesehen und dem Krankenhaus droht darüber hinaus auch noch eine empfindliche finanzielle Strafzahlung", sagt Einwag. Die Krankenhäuser würden so in eine Zwickmühle geraten, da sie einerseits die Versorgung der Patientinnen und Patienten sicherstellen müssten - und andererseits für das Wohlergehen ihrer Mitarbeitenden verantwortlich seien.

Im Bereich der Ausbildung von Pflegekräften hat sich viel getan

Die Reformen der Politik zur Verbesserung der Rahmenbedingungen für Pflegekräfte werden von der Wissenschaft genau beobachtet. Karin Reiber von der Hochschule Esslingen sieht durchaus positive Entwicklungen. Sie nennt hierbei unter anderem die Reform der Ausbildung, die Erhöhung der Ausbildungskapazitäten oder verstärkte Forschungsaktivitäten. Aber man könne nicht das eine tun und das andere lassen, so Reiber.

"Es werden viele Notmaßnahmen ergriffen zur Soforthilfe, die teilweise langfristig angelegte Strategien unterwandern beziehungsweise unwirksam machen."

Professorin: Politik ermöglicht freien Anbietern lukratives Geschäft

In den vergangenen Jahren hätten sich Berufspolitikerinnen und Berufspolitiker beispielsweise sehr auf die Akademisierung der Erstausbildung fokussiert. Dabei seien viele neue Studienangebote entstanden. Die Politik müsse aber gleichzeitig die konventionelle Ausbildung stärken, da sie "auf weiteres die Hauptsäule der Fachkräftegewinnung" bleibe.

Die Professorin kritisiert zudem, dass die Politik "entscheidende Punkte dem freien Spiel der Kräfte" überlasse. Durch das neue Pflegeberufegesetz würden auch die Anforderungen an das Bildungspersonal angehoben. Anstatt Studienkapazitäten an staatlichen Hochschulen auszubauen, überlasse man das Feld privaten Anbietern, für die das ein lukratives neues Betätigungsfeld sei. Das führe zu erheblichen finanziellen Belastungen der Studierenden aufgrund hoher Studiengebühren und zu einer großen Uneinheitlichkeit, was die Inhalte betrifft. "Das ist nicht wirklich förderlich", sagt Reiber.

Corona-Prämien für Pflegekräfte: Tropfen auf den heißen Stein

Um aufzuzeigen, was man für Pflegekräfte mache, betonen Politikerinnen und Politiker gerne die Corona-Prämien, die mehrfach ausgezahlt wurden. Doch die kommen nicht überall gut an. "Die Corona-Prämien, die wieder nicht alle Pflegekräfte bekommen haben, haben mehr Ärger gebracht als Nutzen. Meine Kolleginnen und Kollegen haben oftmals den Glauben an die Politik verloren", sagt Susanne Scheck, Vorsitzende des Landespflegerats Baden-Württemberg.

Auch aus Sicht des Deutschen Berufsverbands für Pflegeberufe (DBfK) ist die Corona-Prämie "schön - aber nur ein Tropfen auf den heißen Stein", so die Vorsitzende des DBfK Südwest, Andrea Kiefer. Der Effekt verpuffe sehr schnell.

Was machen Krankenhäuser, um Pflegepersonal zu halten?

Ausbaden müssen den unbefriedigenden Zustand vor allem die Pflegekräfte - aber auch die Krankenhäuser. So lassen sich die Kliniken in Baden-Württemberg viel einfallen, um das Pflegepersonal zu halten. Von Teilzeitmodellen über eigene Kindertagesstätten, psychosoziale Beratungsangebote bis hin zu Qigong-Kursen und kostenlosem Eis im Sommer - einzig: Diese Angebote lösen nicht das Problem der allgemeinen Rahmenbedingungen und des Fachkräftemangels.

"Es gibt so viele Widrigkeiten in dem System, dass es im Moment eher eine Verwaltung des Mangels ist", sagt Mark Dominik Alscher, medizinischer Geschäftsführer im Robert-Bosch-Krankenhaus Stuttgart. Die Zeiten, im Krankenhaus viel Geld zu verdienen, seien vorbei. Die Rahmenbedingungen würden aus seiner Sicht immer schwieriger. "Wir frustrieren die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im Alltag. Das kann auf Dauer so nicht gehen", warnt Alscher.

Wie viele Krankenhäuser braucht Baden-Württemberg?

Er stellt deshalb die Frage, wie viele Krankenhäuser sich Baden-Württemberg überhaupt noch leisten wolle. Alscher ist überzeugt: "Wir haben Krankenhäuser, die brauchen wir im Moment so nicht mehr. Aber das wird im Moment nicht offen und korrekt diskutiert". Aus seiner Sicht müsse die Politik dringend entscheiden, wie viele Krankenhäuser sich Baden-Württemberg leisten will und in welcher Struktur. Das würde bedeuten, dass auch Entscheidungen gefällt werden müssten, welche geschlossen werden.

"Das scheut natürlich jeder Verantwortliche, weil dann der Proteststurm heftig ist."

Als Vorbild sieht Alscher Nordrhein-Westfalen und Niedersachsen, die in die Diskussion über den Bedarf an Krankenhäusern eingestiegen seien. "Wir müssen auch offen diskutieren: Wie lange wollen wir uns das ambulante und stationäre System nebeneinander her erlauben?", fragt Alscher. Im niedergelassenen System gäbe es verstärkt Probleme, die Praxen zu besetzen. Kein niedergelassener Arzt will heute noch 70 bis 80 Stunden pro Woche arbeiten und im Notfall nachts arbeiten. Deshalb seien die Notaufnahmestationen in den Krankenhäusern so voll.

Stuttgart

Traurige Bilanz bei Kliniken Fast jedes fünfte Krankenhaus in Baden-Württemberg insolvenzgefährdet

Die wirtschaftliche Lage der Kliniken im Land hat sich im Corona-Jahr 2020 verbessert. Laut dem Krankenhaus-Report des RWI-Leibniz-Instituts droht jeder fünften aber Insolvenz.

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Studie: 600 Krankenhäuser deutschlandweit ausreichend

Alscher verweist auf die Studie der Bertelsmann Stiftung aus dem Jahr 2019, nach der es in Deutschland zu viele Krankenhäuser gibt. Eine Reduzierung der Klinikanzahl von aktuell 1.400 deutschlandweit auf "deutlich unter 600 Häuser" würde die Qualität der Versorgung für Patientinnen und Patienten verbessern - und bestehende Engpässe bei Ärztinnen und Ärzten sowie Pflegepersonal mildern, so die Studie.

Deutschland weise laut dieser Studie im internationalen Vergleich im Durchschnitt mehr medizinisches Personal pro Einwohner auf als vergleichbare Länder, aber weniger pro Patient. Diese paradoxe Situation liege daran, dass in der Bundesrepublik viel mehr Patienten in Krankenhäusern versorgt würden als im Ausland. Untersuchungen hätten jedoch ergeben, dass rund ein Viertel der heute in deutschen Kliniken behandelten Fälle nicht stationär versorgt werden müssten.

Die Macher der Studie empfehlen, den Umbau der Krankenhaus-Landschaft schnell zu beginnen. Ansonsten werde viel Geld etwa für die Digitalisierung von Kliniken investiert, die nicht mehr nötig sind.

Sozialministerium in BW "überarbeitet die Krankenhausplanung"

"Selbstverständlich haben wir die Entwicklung der Krankenhäuser im Land im Blick", entgegnete ein Sprecher des baden-württembergischen Sozialministeriums dem SWR. Das Land sei führend bei der Umgestaltung der Kliniklandschaft. "Im Augenblick überarbeiten wir dafür die bedarfsgerechten Landeskrankenhausplanung unter Einbindung der sektorenübergreifenden Versorgung und passen sie an die aktuellen Gegebenheiten an", so der Sprecher. Einen Zeitplan, wann die neue Krankenhausplanung fertig sei, konnte er auf Nachfrage nicht nennen.

Laut einem aktuellen Krankenhaus-Report des RWI-Leibniz-Instituts droht jeder fünften Klinik in Baden-Württemberg Insolvenz. Damit ist das Land im Vergleich zu anderen Bundesländern weiterhin klares Schlusslicht. Nur jedes zweite Krankenhaus in Baden-Württemberg ist laut dem Bericht des Wirtschaftsinstituts aus Essen wirtschaftlich gesund.

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