Zwei Krankenpflegerinnen betrachten vor einem Krankenzimmer in Schutzkleidung und hinter einer Atemmaske zwei Abstrichröhrchen und den dazu gehörenden Virologieschein.  (Foto: dpa Bildfunk, picture alliance/dpa | Bernd Thissen)

Kaum Mitspracherechte

Immer noch keine Landespflegekammer in BW - Pflegekräfte sind zu schwach organisiert

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Heidrun Lieb

Über die Pflege wird viel gesprochen - viel mitsprechen darf sie jedoch nicht. Noch immer bestimmen fachfremde Personen, wie gute Pflege im Land auszusehen hat. Woran liegt das?

Seit der Corona-Pandemie steht der Pflegeberuf sowie die starke Arbeitsbelastung der Pflegekräfte im Fokus der Öffentlichkeit. Um dies zu würdigen, klatschten viele Menschen auf den Balkonen für das Personal. Immer wieder verspricht die Politik, den Beruf aufzuwerten. Und doch ist der Frust bei Pflegekräften nach wie vor enorm hoch. Expertinnen und Experten warnen vor Versorgungsengpässen und einem Kollaps der pflegerischen Versorgung. Eine neue, ausführliche SWR-Recherche zeigt: Der Fehler liegt im System.

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Pflegekräfte in Baden-Württemberg zu wenig organisiert

Während Ärztinnen und Ärzte in Baden-Württemberg durch die Landesärztekammer einen Interessensverband haben, gibt es für den Pflegeberuf keine Organisation, die alle Pflegekräfte vertritt. Bisher gibt es nur verschiedene Berufsverbände - die Mitgliedschaft ist freiwillig. Seit Jahren kämpfen die Berufsverbände im Land für die Gründung einer Pflegekammer - bisher vergebens.

"Eine Pflegekammer ist so wichtig, weil sie derzeit die einzige demokratische Möglichkeit im deutschen Gesundheitssystem ist, Einfluss auf die Gesetzgebung zu nehmen und politische Mitsprache zu bekommen", sagt Susanne Scheck, Vorsitzende des Landespflegerats Baden-Württemberg. Das deutsche Gesundheitswesen basiere im Wesentlichen auf der Selbstverwaltung. Scheck fordert wie viele andere aus der Pflege einen sogenannten "Dreiklang": bestehend aus den Berufsverbänden, Gewerkschaften sowie einer Landespflegekammer.

Warum gibt es bisher keine Pflegekammer in BW?

Nach Angaben des Deutschen Berufsverbands für Pflegeberufe (DBfK) in Baden-Württemberg wurde im Jahr 2020 bereits mit der Landesregierung über einen Gründungsausschuss für eine Pflegekammer gesprochen. "Die Gründung war nahezu auf der Zielgeraden", sagt die Vorsitzende des DBfK Südwest, Andrea Kiefer, dem SWR. Dafür müsse es jedoch eine Gesetzesänderung geben. Doch das Vorhaben wurde wieder auf Eis gelegt.

Auf Anfrage des SWR begründet ein Sprecher des baden-württembergischen Sozialministeriums die Entscheidung damit, dass es bei der Anhörung des Gesetzentwurfs zur Errichtung einer Landespflegekammer im Frühjahr 2020 Kritik gegeben habe. Aufgrund der sich anbahnenden Corona-Pandemie hätten die Pflegefachkräfte im Land nicht ausreichende Möglichkeiten gehabt, sich über die geplante Pflegekammer und die gesetzliche Ausgestaltung zu informieren, so der Sprecher.

Koalitionsvertrag in BW: "Mit Nachdruck" für Kammer einsetzen

Das Sozialministerium habe deshalb die Entscheidung getroffen, das Vorhaben in die aktuelle Legislaturperiode zu schieben. So steht im Koalitionsvertrag der grün-schwarzen Landesregierung vom Mai 2021: "Wir werden uns in der 17. Legislaturperiode mit Nachdruck dafür einsetzen, mit der Einführung der Pflegekammer die Selbstverwaltung der Pflegekräfte und das Berufsbild insgesamt zu stärken."

Seitdem ist mehr als ein Jahr vergangen - und noch immer wurde bezüglich einer Pflegekammer nichts umgesetzt. "Aktuell laufen erste Überlegungen, in welcher Weise das Thema der Errichtung einer Landespflegekammer in Baden-Württemberg wieder aufgegriffen werden soll", so der Ministeriumssprecher.

Darauf angesprochen sagt Susanne Scheck vom Landespflegerat Baden-Württemberg nur: "Ich blicke zuversichtlich in die Zukunft".

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Die Landespflegekammer RLP ist die einzige deutschlandweit

Markus Mai ist Präsident der Landespflegekammer im benachbarten Rheinland-Pfalz. Sie wurde im Jahr 2016 gegründet - und ist derzeit die einzige Landespflegekammer deutschlandweit. Auf die Frage, warum das so sei, konstatiert er nüchtern: "Wir haben in unserem Beruf einen fatalen Organisationsgrad". Viele Pflegekräfte könnten nicht nachvollziehen, warum es sinnvoll ist, sich mit großer Macht auch politisch zu engagieren. Er mache ihnen dafür keinen Vorwurf. "Sie haben politische Interessensvertretung nie gelernt", so Mai.

"Einflussnahme geht nicht im Ehrenamt."

Alle Mitglieder der elf Mitgliedsverbände des Landespflegerats in Baden-Württemberg arbeiten ehrenamtlich. Laut Scheck fehlt somit zum einen die Zeit, um in jedes Gremium zu gehen. Problem sei auch, dass die Berufsverbände gar nicht für alle Pflegekräfte sprechen könnten, da nur in Kammern eine Pflichtmitgliedschaft besteht. Nach der Erfahrung von Markus Mai würde die Politik die Belange der Pflege zudem nur dann ernst nehmen, wenn eine entsprechende Zahl an Wählerstimmen dahinterstehe.

Nicht alle Pflegekräfte sind für eine Pflegekammer

"Viele Kolleginnen und Kollegen fragen sich, was eine Pflegekammer wirklich bringen soll", erzählt Intensiv-Krankenpflegerin Veronika Meyer aus dem Raum Stuttgart. Aus Sorge vor negativen Konsequenzen möchte sie nicht erkannt werden, ihr richtiger Name ist der Redaktion bekannt. Der Grund für die Skepsis: Laut Meyer fühlen sich die Pflegekräfte durch die Gewerkschaft ver.di nicht gut vertreten. "Wir werden nicht richtig gesehen, das ärgert mich", sagt sie. Auch der Betriebsratsvorsitzende der SLK-Kliniken Heilbronn, Jens Mohr, sieht das so: "Ich habe das Gefühl, die Klinikbeschäftigten laufen immer so 'unter ferner liefen'."

Viele Pflegekräfte würden sich laut Meyer deshalb fragen, welchen Mehrwert eine Kammer für sie hätte. Diese hätte zudem eine Pflichtmitgliedschaft zur Folge - verbunden mit monatlichen Kosten. In Rheinland-Pfalz kostet die Mitgliedschaft in der Pflegekammer nach Angaben des Präsidenten maximal 9,70 Euro pro Monat - für eine Pflegekraft, die direkt am Bett arbeitet und weniger als 4.500 Euro brutto im Monat verdient.

Doch auch wenn nicht alle Pflegerinnen und Pfleger eine Kammer gutheißen - die Mehrheit in Baden-Württemberg ist dafür. Laut Sozialministerium haben sich in der vergangenen Legislaturperiode bei einer repräsentativen Umfrage unter den Pflegekräften im Land rund zwei Drittel für eine Pflegekammer ausgesprochen.

Gewerkschaft ver.di ist gegen die Errichtung einer Pflegekammer in BW

Strikt gegen die Einführung eine Pflegekammer ist die Gewerkschaft ver.di. Der Grund: Auf das drängendste Problem der Pflege, mehr Personal zu finden und den Beruf aufzuwerten, habe eine Pflegekammer überhaupt keinen Einfluss, meint Irene Gölz, Fachbereichsleiterin Gesundheit, Soziale Dienste, Bildung und Wissenschaft bei ver.di Baden-Württemberg. "Eine Kammer ist eine Sackgasse, das bringt nichts", ist sie überzeugt. Außerdem würden Qualitätskriterien, die eine Kammer festlege, nichts bringen, wenn es zu wenig Personal gebe.

Über die Vorwürfe, ver.di kümmere sich nicht ausreichend um die Pflegerinnen und Pfleger, ist Gölz zudem sehr empört. "Wir machen unglaublich viel für die Pflegekräfte, auch ich persönlich", sagt sie. Sie lade jeden, der nicht mit der Arbeit der Gewerkschaft zufrieden sei, ein, mit ihr Kontakt aufzunehmen.

Fachfremde Personen bestimmen über Qualität der Pflege

"Durch die mangelnde Organisation ist die Pflege da, wo sie ist", davon ist Markus Mai von der Landespflegekammer Rheinland-Pfalz überzeugt. Im Moment werde das Berufsrecht sowie die Qualität von den Verwaltungsorganisationen bestimmt, die vom Gesetzgeber dazu beauftragt wurden. Das seien beispielsweise Krankenhäuser, die Pflegekassen sowie die Einrichtungsträger. "Da sitzen Leute am Tisch, die haben mit der beruflichen Pflege nichts zu tun. Das ist ein Problem in unserem System", sagt Mai.

"Berufsrecht und Qualität wird uns von außen übergestülpt. Die Ärzte würden sich nie von irgendeiner externen Stelle sagen lassen, was medizinische Qualität ist."

"Es ist die größte Berufsgruppe im Gesundheitswesen und sie ist als einzige nicht an politischen Entscheidungen beteiligt, weil sie nicht organisiert ist", kritisiert auch Susanne Scheck vom Landespflegerat BW.

Bisher kaum Mitspracherechte für Pflegekräfte

Scheck fordert zudem ein Stimmrecht für Pflegekräfte im Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA). Derzeit entscheiden in diesem Ausschuss Vertreterinnen und Vertreter der Ärzte, Apotheker sowie Krankenhäuser unter anderem, welche Leistungen gesetzlich Versicherte erstattet bekommen oder wie die Qualitätssicherung für Krankenhäuser aufgebaut ist. Vertreter der Pflegeberufe sind im G-BA nicht vertreten.

Für den Pflegedirektor der Universitätsklinik Tübingen, Klaus Tischler, ist die mangelnde Vertretung der Pflege ein großes Problem. Das gilt aus seiner Sicht nicht nur für den G-BA, sondern auch für Aufsichtsräte und Gesellschafterversammlungen. Denn hier werden die strategischen Entscheidungen zur Ausrichtung und Besetzung von Geschäftsführung und Vorstand getroffen. "Kein Unternehmen in der Wirtschaft hat einen Aufsichtsrat, in dem sich nicht die Kernkompetenzen des Unternehmens widerspiegeln", sagt Tischler. Auch er fordert deshalb, dass die Selbstverwaltung der Pflege dringend gestärkt und aufgebaut werden sollte - in Form einer Pflegekammer.

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Heidrun Lieb