Film

„Forever Young“ über die Schauspielschule „Les Amandiers“ versetzt in die 80er-Jahre zurück

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AUTOR/IN
Rüdiger Suchsland

Eine Jugend in den frühen 80er-Jahren: Ein Dutzend Schauspielschülerinnen und -schüler beginnt gemeinsam das Studium bei dem berühmten Theaterrevolutionär Patrice Chéreau. Sie teilen berufliche und amouröse Krisen und Sehnsüchte, aber auch den Einbruch von Drogen und AIDS in ihren Alltag. Ein Film voller Charme und Leidenschaft.

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Schauspielschule „École des Amandiers“

Der Titel reißt uns zurück in die 80er-Jahre, jedenfalls jene von uns, die sich daran noch erinnern können. Die Regisseurin Valeria Bruni Tedeschi, inzwischen eine sehr bekannte Filmschauspielerin, war damals als Schauspielerschülerin Teil der „École des Amandiers“ am Nationaltheater von Nanterre-Amandiers, das damals vom legendären Theater- und Opernregisseur Patrice Chereau geleitet wurde.

Vieles, was man in diesem Film sieht, ist tatsächlich passiert und zeigt, wenn auch alles angemessen fiktionalisiert wird, bekannte Figuren der französischen Kunstszene wie in einem Schlüsselroman.

Typisch französisches Autorenkino

„Les Amandiers“ heißt dieser Film im Original. Er steht für eine sehr französische Tradition des Autorenkinos: Zum einen der, Erfahrungen und historische Momente aus dem Leben der Regisseure selbst ans Publikum weiterzureichen.

Stills aus dem Film "Forever Young"  (Foto: Neue Visionen Filmverleih)
Für immer jung: Die Schauspielstudenten Stella (Nadia Tereszkiewicz) und Etienne (Sofiane Bennacer) leben im Hier und Jetzt. Bild in Detailansicht öffnen
Stills aus dem Film "Forever Young"  (Foto: Neue Visionen Filmverleih)
Im Paris der 1980er Jahre: An der renommierten Schauspielschule beginnt für die jungen Studenten eine neue Ära. Bild in Detailansicht öffnen
Stills aus dem Film "Forever Young"  (Foto: Neue Visionen Filmverleih)
Etienne und Stella lieben sich auch abseits der Theaterbühne. Bild in Detailansicht öffnen
Stills aus dem Film "Forever Young"  (Foto: Neue Visionen Filmverleih)
Der Regisseur Patrice Chéreau (Louis Garrel) setzt große Schauspielhoffnungen in die junge Stella. Bild in Detailansicht öffnen
Stills aus dem Film "Forever Young"  (Foto: Neue Visionen Filmverleih)
Die Studentengruppe bringt Tschechows „Platonow“ auf die Theaterbühne. Bild in Detailansicht öffnen
Stills aus dem Film "Forever Young"  (Foto: Neue Visionen Filmverleih)
Brillant und eigenwillig: Regisseur Patrice Chéreau unterrichtet die jungen Schauspielschüler*innen. Bild in Detailansicht öffnen
Stills aus dem Film "Forever Young"  (Foto: Neue Visionen Filmverleih)
Etienne und Stella kommen aus unterschiedlichen sozialen Schichten – nur auf der Theaterbühne sind sie gleich. Bild in Detailansicht öffnen
Stills aus dem Film "Forever Young"  (Foto: Neue Visionen Filmverleih)
Doch es ist eine Romanze ohne Zukunft: Die beiden Schauspielschüler befinden sich auf einem Kollisionskurs mit der harten Realität des Erwachsenenlebens. Bild in Detailansicht öffnen

Zum anderen für die Gewohnheit, die nationale künstlerische Tradition zu pflegen und klassische Künste, Literatur, Musik oder Malerei mit der Kunst des 20. Jahrhunderts, mit dem Kino, zu verbinden. In diesem Fall das Theater.

Ambitionierte Jugend strebt auf eine Kunstschule

Gleich zu Beginn erleben wir ein paar junge Menschen bei der Aufnahmeprüfung für die Schauspielschule. Die nun folgende Geschichte basiert im Kern auf dem wiederkehrenden – und, offen gesagt, ein wenig klischeehaften – Muster, das spätestens seit "Fame" ein eigenes Genre bildet: Eine Gruppe von jungen ambitionierten Menschen will auf einer renommierten Kunstschule aufgenommen werden.

Während des harten Aufnahmeprozesses und der noch härteren Ausbildung durchleben die Jugendlichen in dem geschlossenen Raum der Schule höchst intensiv und leidenschaftlich alle Arten von beruflichen, amourösen und existenziellen Krisen, Sehnsüchten und Erfolgen.

Postmoderne Narrative der 80er-Jahre

Bruni Tedeschi tut allerdings noch mehr: Die Regisseurin verbindet ihre autobiographische Geschichte und die der Theatergruppe mit der der 80er Jahre.

Nämlich dem postmodernem Umbruch der Moderne, der sich vor allem durch Erklärungen des Endes auszeichnete: Das "Ende der großen Erzählungen", das "Ende der Utopien", das "Ende des Wachstums", das "Ende der Geschichte". "No Future!"

AIDS und Drogen: Film erzählt authentisch aus seiner Zeit

Mitte der 1980er-Jahre war auch der Moment, in dem AIDS ins Leben der Menschen eindrang. Die Immunkrankheit, die Debatten über Sexualität, der Beginn der öffentlich sichtbaren Homosexuellenbewegung spielen alle eine große Rolle in der Filmhandlung.

Ebenso die Drogen: Mehr Heroin als Kokain. Der Film hat die für biographische Erfahrungen typische Authentizität. Er schafft es, sein Publikum in diese Zeit und an diesen Ort zurückzuversetzen.

Loyal und unberechenbar: Patrice Chéreau

Hochinteressant für Theaterfans ist nicht zuletzt auch die Darstellung des Theaterrevolutionärs Patrice Chéreau. Wir erleben hier Szenen der Arbeit mit Pierre Boulez, an seinen berühmten Inszenierungen von Bernard-Marie Koltès und von Tschechows "Platonov", einem Stück über das Ende der Jugend.

Die junge Schauspielertruppe wird mit den hohen Anforderungen eines Regisseurs konfrontiert, der alle Schauspieler, vom Hauptdarsteller bis zum Nebendarsteller, als Hauptakteure betrachtet. Den Patrice Chéreau spielt Louis Garrel genauso in einer Mischung aus Unberechenbarkeit und Loyalität, wie Chereau dies im richtigen Leben gehabt haben muss.

Ein Film voller Charme und Leidenschaft

Es ist ein Film voller Charme und Leidenschaft. In einem gewissen Sinn widerlegt die Regisseurin selbst diese ganzen oben genannten 80er-Jahre-typischen End-Erklärungen.

Valeria Bruni Tedeschi erzählt hier nämlich eine ganz universale, klassische, "große" Geschichte: Sie handelt von den Träumen und Visionen aller Künstler*innen dieser Erde zu allen Zeiten, eine Geschichte von sehr viel Liebe, sehr viel Sensibilität und sehr viel Kraft.

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