Buchkritik

Joshua Groß, Sebastian Tröger – Kiwano Tiger

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AUTOR/IN
Nina Wolf

Die Kiwano, auch Zacken- oder Horngurke genannt, ist eine kürbisartige Frucht, die auf unserer Erde in Saharanähe wächst. Im von Tigern bevölkerten Universum von Joshua Groß‘ „Kiwano Tiger“, ist die Frucht der Lieblingssnack der Großkatzen. Und das ist nicht die einzige Eigenartigkeit, die dieses Buch zu bieten hat…

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„Es war einmal…“ - so beginnen für gewöhnlich Märchen. Aber was steht zu Anfang eines Science-Fiction-Märchens? Joshua Groß spart sich für „Kiwano Tiger“ das Vorgeplänkel und beginnt gleich so:

„Raja, eine mittelalte Tigerin, reist auf einem morphenden Spaceshuttle, das ebenso ein Planet ist, von Verwerfungszone zu Verwerfungszone, wo sie mit ihrer Gitarre auftritt. Sie wird begleitet von ihrem Bodyguard Gongor, der ein sehr freundlicher und sehr furchteinflößender Tiger ist.“

Schon sind wir mittendrin im „Kiwano Tiger“- Universum. Raja und Gongor reisen in einem unterbodenbeleuchteten Cadillac. Die Tigerin ist eine Virtuosin an der E-Gitarre. Wenn sie singt, versetzt es die anderen Tiger in einen ekstatischen Zustand. Während einer Neon-Nova, einem galaktischem Lichtereignis, soll Raja ein Konzert geben. Auf dem Weg dorthin treffen Raja und Gongor andere Tiger, spielen Curling oder trinken Softgetränke. In den verschiedenen Verwerfungszonen erwarten sie unterschiedlich beschaffene Landschaften mit speziellen Eigenheiten. Diese Zonen beschreibt Groß als nebeneinander existierende Welten. Sie kreiert das Spaceshuttle, auf dem die Tiger leben, selbst und scheinbar zufällig.

„Das Spaceshuttle wuchert im Inneren, es wirft mit Landschaften, es deliriert in fiebernder, in logischer Weise. Im Universum schwebt es mattschwarz schimmernd, aber von innen begreift niemand seine Ausmaße.“

Tiger auf einem Raumschiff im Weltall also. Müsste man hierfür ein Genre finden: Science-Fiction, ganz klar. Aber was macht „Kiwano Tiger“ zu einem Märchen?

Einerseits sind das Joshua Groß‘ unerschöpfliche Phantasmen, mit denen er das Tiger-Universum besiedelt. Andererseits ist es der Umstand, dass sich in „Kiwano Tiger“, genau wie in Rotkäppchen, Rumpelstilzchen und Rapunzel, eine Analogie auf das Leben verbirgt.

Das Tiger-Spaceshuttle verfügt über endlose Ressourcen.  Die Großkatzen treiben durch die Galaxie, ohne dass sie sich sorgen müssten. Trotzdem existiert eine allgegenwärtige Bedrohung: Einige Verwerfungszonen verschwinden schlagartig, mitsamt der Tiger, die in ihnen leben. Was nach dem Verschwinden geschieht, kann niemand erklären. Die Fragen, die sich die Tiger stellen drehen sich um nichts weniger als darum, was geschieht, wenn es mit dem Leben zu Ende geht. Was passiert, wenn die Zonen verschwinden und die Tiger mit ihnen? Sie sehnen sich nicht nur nach Antworten, sondern auch nach einem Lebenssinn:

„Die Tiger wollen wissen, was es mit den Landschaften und Verwerfungszonen auf sich hat. Sie überantworten sich der philosophischen Forschungsarbeit. Wie soll man kapieren, dass das Spaceshuttle unerschütterlich und nicht unerschütterlich zugleich ist? Die Tiger sitzen in Garküchen. Die Tiger lieben alles frittiert. Die Tiger spazieren in botanischen Gärten. Die Tiger liegen in telepathischen Räumen und empfangen Abhandlungen über Biosphären, sie empfangen Musik. Die Tiger schweben mit ihren Muscle Cars durch glitzernde Waschanlagen. Die Tiger tanzen in telepathischen Clubs. Die Tiger lieben Curling.“

Poetisch und stakkatohaft erzählt Joshua Groß vom Weltraum-Tiger-Leben. So bekommt „Kiwano Tiger“ einen eigenen Sound, der bei der Lektüre einlullt. Die Tonalität, die verknappten Sätze, erinnern an „Es war einmal…“; Märchen eben.

 Für seine Welt entleiht Groß Bilder aus Popkultur oder spielt sprachlich mit Exotischem. Etwa die titelgebende Tropenfrucht Kiwano: Die Horn- oder Zackengurke ist in unserer Welt südlich der Sahara beheimatet. Fremdartig ist sie für uns trotz alledem. Für die Tiger Raja und Gongor dagegen ist sie auf ihrer Cadillac-Fahrt ein kleiner, alltäglicher Snack für Zwischendurch.

„Kiwano Tiger“ entlarvt Groß als Science-Fiction-Liebhaber und -kenner. Für sein skurriles Universum bezieht er sich auf einen Genreroman aus dem Jahr 1968. Seinem Text stellt er ein Zitat aus Richard Brautigans „In Wassermelonen Zucker“ voran. In Brautigans Dystopie erzählt ein namenloser Ich-Erzähler von einem fantastischen Kosmos, in dem alles stets verfügbar ist und die Sonne in unterschiedlichen Farben scheint. Wären da nur nicht die Tiger, die die Bewohner terrorisieren.  

Wer bei „In Wassermelonen Zucker“, im Original „In Watermelon Sugar“ nun Harry Styles vor Augen hat, der in Gucci gewandet seinen Megahit „Watermelon Sugar High, Watermelon Sugar High“ trällert, ist gedanklich in kein Wurmloch abgedriftet. Styles verriet in Interviews, dass die Lyrics seines Pop-Glanzstücks tatsächlich von Brautigans Roman inspiriert seien. Tigerin Raja wiederum verzaubert als Space-Popsternchen ihre Fans. Mit Harry-Styles-hafter, runder Sonnenbrille und im pinken Kunstfellmantel besteht ihr Lebenssinn darin, in den Verwerfungszonen zu singen.

„Die Eleganz, mit der Rajas Tigerkrallen die Gitarrensaiten anzupfen, verursacht Hirnschmelze. Raja singt von Landschaften, die sie mit ihren Liebhaberinnen und Liebhabern verwechselt. Sie singt davon, als würde sie einen Verlust besingen. Alle Tiger, die Verluste kennen, sind angerührt. Und alle Tiger kennen Verluste.“

In diesem Universum, in dem es alles stets verfügbar ist, in dem nur das Verschwinden, das Sterben oder das mit der Verwerfungszone abgekoppelt werden, allgegenwärtig ist, stiftet nur die Kreativität Sinn. Die Musik verbindet die Tigergemeinschaft miteinander. „Kiwano Tiger“ ist lesbar als eine Fabel auf die Kraft der Kunst.

Kurzweilige 88 Seiten umfasst das Büchlein, das im Starfruit Verlag erschienen ist. „ Der Nürnberger Illustrator Sebastian Tröger bebilderte Joshua Groß‘ Text. Dafür tauchte Tröger den Pinsel tief in den Tuschetopf: Kaltblau sind seine Bilder, mal ausgelassen und abstrakt, mal anrührend. 

Joshua Groß‘ „Kiwano Tiger“ ist humorvoll, herrlich absurd und entfaltet Seite für Seite eine Mehrdeutigkeit, die zum Grübeln einlädt.

Sebastian Trögers reduzierte Zeichnungen sind behagliche Kontrapunkte zum inhaltsreichen Text: Ein abgespacestes Gesamtkunstwerk!

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Mit Büchern von Sandra Hoffmann, Auður Ava Ólafsdóttir, Jürgen Serke, Joshua Groß und Jose Dalisay

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