In ihrem Buch zeigt Dana Schmalz, dass auch die gegenwärtigen Diskurse zum weltweiten Bevölkerungswachstum immer noch durch anfänglichen Schock und die darauffolgende Panik geprägt sind.
Als Anfang der 1970er Jahre die Angst vor einer Bevölkerungsexplosion ihren Höhepunkt erreichte, zeichnete sich in den Industriestaaten längst ein deutlicher Rückgang der Geburtenzahlen ab. Der sogenannte Pillenknick hatte bereits seit einigen Jahren seine Spuren in der Statistik hinterlassen, und die Baby-Boomer-Phase der Nachkriegszeit neigte sich ihrem Ende zu.
Trotzdem malten viele Prognosen das düstere Bild einer Zukunft, in der die Erde eines Tages von der Menschheit überfordert sein würde. Der berühmte Bericht des „Club of Rome“ machte dafür nicht nur das industrielle, sondern vor allem auch das demografische Wachstum verantwortlich. Denn insgesamt vermehrte sich die Weltbevölkerung nach wie vor exponentiell.
Die Menge der Menschen
In ihrem Buch „Das Bevölkerungsargument“ hat Dana Schmalz die lange Geschichte dieser Angst vor zu vielen Menschen untersucht und die bemerkenswerten Kontinuitäten im Umgang damit herausgearbeitet. Denn die Sorge vor einer Übervölkerung, die bis ins 19. Jahrhundert zurückreicht, betrifft keineswegs alle, sondern nur ganz bestimmte Menschen:
Zu viel waren meistens »die anderen«: zunächst die Armen in England und dann in sonstigen wachsenden europäischen Staaten. Dann die im Rassendenken und in de Eugenik als minderwertig Eingeordneten. Schließlich die in Staaten des Globalen Südens Geborenen, wo weiter hohe Geburtenraten herrschten, als in Europa und Nordamerika die Bevölkerungen allmählich langsamer wuchsen.
Die Folgen des Fortschritts
Bis zum Beginn der Neuzeit lebten nie mehr als 500 Millionen Menschen auf der Erde. Auch wenn die Zahl der Menschen oft starken Schwankungen unterlag, bedingt durch Seuchen und Kriege, ist die Weltbevölkerung über viele Jahrhunderte stabil geblieben.
Das änderte sich erst durch die Verbesserung der hygienischen Umstände. Mit der Abnahme der Säuglingssterblichkeit im 19. Jahrhundert begann ein intensives demografisches Wachstum, zunächst in Europa, später auch in den Ländern der sogenannten Dritten Welt. Darauf reagierten die Industriestaaten mit umfassenden Programmen zur Entwicklungshilfe:
Zugleich trugen die Programme vielfach eine neokoloniale Handschrift. Sie waren auch Ausdruck einer westlichen Panik vor Dominanzverlust: Just in den Jahren, als Millionen Menschen aus den ehemaligen Kolonien zu Bürger:innen unabhängiger Staaten wurden, begann ihre Zahl so erhebliche Aufmerksamkeit zu erregen.
Die Politik der Prognosen
In Europa fand das enorme Bevölkerungswachstum zeitgleich mit der Industrialisierung statt und beschleunigte sie sogar. Mit den modernen Metropolen entstanden jedoch ebenso beispiellose Elendsquartiere, deren Existenz die Errungenschaften des Fortschritts in Frage stellte und eine regelrechte Panik vor einer unkontrollierbaren Entwicklung auslöste.
Als das gleiche Schicksal auch den Globalen Süden ereilte, sollten die Folgen durch eine aktive Bevölkerungspolitik abgemildert werden. Anfang der 1970er Jahre richteten die Vereinten Nationen einen Bevölkerungsfonds ein, dessen Ziel bis heute in der Eindämmung der Geburtenzahlen besteht. Am radikalsten ging dabei die Volksrepublik China vor:
Die Ein-Kind-Politik ging mit massiven Rechtsverletzungen einher, sie wird heute allgemein als Sonderfall und als Beispiel für Unterdrückung durch das Regime betrachtet. Doch auch diese Politik fand nicht in einem Vakuum statt, sondern war beeinflusst durch internationale Diskurse über Bevölkerungswachstum.
In ihrer sorgfältigen Analyse zeigt Dana Schmalz, wie die Sorge vor einer Übervölkerung häufig die Probleme falsch eingeschätzt hat, und das über viele Jahrzehnte. Ihr Buch ist eine hervorragende Einführung in die komplexe Geschichte der Demografie und der Angst vor zu vielen Menschen, die sich heute als Angst vor dem demografischen Wandel in ihr Gegenteil verkehrt.
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