Inés saß im Gefängnis, sie hat die Geliebte ihres Mannes getötet. Nach ihrer Entlassung, findet sie ein verändertes Argentinien vor: Frauenpower, Gendersprache, LGBTQ-Rechte.
Fünfzehn Jahre – so lange hat Inés im Gefängnis gesessen. Der Roman setzt an dem Tag ein, an dem sie entlassen wird. Eine Mörderin, die die Geliebte ihres Mannes erschossen hat. Ein sogenanntes Verbrechen aus Leidenschaft, von dem Claudia Piñeiro vor zwei Jahrzehnten in ihrem literarischen Debüt „Ganz die Deine“ erzählte.
In ihrem neuen Roman „Die Zeit der Fliegen“ erleben wir nun, wie sich Inés, eine zutiefst konservative, von einem patriarchalen System geprägte Frau, in einer veränderten Gesellschaft zurechtfinden muss.
Ganz besonders hatten sich die Frauen verändert. Es waren Jahre gewesen, in denen die Frauen unablässig ihre Forderungen stellten und die Welt, so wie ich sie kannte, auf den Kopf gestellt wurde. Mir war sofort klar, dass ich einen Crashkurs brauchte, um mich auf die neuen Zeiten einzustellen.
…lässt Piñeiro ihre Romanfigur Inés feststellen. Während die eifersüchtige Ehefrau in Haft war, hat eine neue feministische Bewegung die Straßen erobert, Femizid wurde ein erschwerter Straftatbestand, LGBTQ-Rechte wurden gesetzlich verankert und die Gendersprache hat Einzug gehalten. All das ist in Argentinien in den vergangenen Jahrzehnten wirklich passiert.
Detektivin und Kammerjägerin
Doch für einen theoretischen Crashkurs hat Inés gar keine Zeit – sie muss Geld verdienen, zum ersten Mal in ihrem Leben. Zusammen mit einer Frau, die sie aus dem Gefängnis kennt, gründet sie eine Firma: Die Freundin ist als Detektivin unterwegs, und Inés kümmert sich um Schädlingsbekämpfung in Privathäusern.
Eine reichlich ungewöhnliche Kombination von Dienstleistungen, die die beiden Frauen bald in heikle Situationen bringt, in denen es – natürlich – um Leben und Tod geht. Denn, wie könnte es anders sein, auch dieser Roman von Claudia Piñeiro hat Krimi-Elemente. Alles beginnt, als eine Kundin die Kammerjägerin Inés als Mordhelferin einspannen will und ihr dafür Geld bietet – viel Geld.
Frau Bonar trinkt, sie hat noch Wein für einen Schluck in ihrem Glas. „Ich habe dich wiedererkannt, ich weiß, was du getan hast, und habe deine Dienste weiter gebucht. Du siehst, ich habe keine Vorurteile wegen irgendjemandes Vergangenheit.“ – „Das sehe ich, ja.“ – „Aber außerdem weiß ich, dass du die passende Person bist, um mir zu helfen.“ – „Wie sollte ich Ihnen helfen? – „Indem du mir das nötige Gift besorgst, um diese Frau auszuschalten.“
Drama eines transsexuellen Jugendlichen
Was die Kundin mit dem Gift tatsächlich vorhat, erfahren wir erst viel später, und wie Inés mit der unmoralischen Offerte umgeht, sei hier nicht verraten. Piñeiro erzählt die Geschichte linear, mit einigen Rückblenden. Die Perspektiven wechseln: Mal hat Inés das Wort, mal ihre Freundin, die Detektivin, mal Inés Tochter.
Der Krimi-Plot ist originell, fesselnd und psychologisch tiefschürfend, wirkt allerdings zuweilen nicht ganz realistisch. Interessant sind die Innen- und Außenwelten, die die Autorin für ihre Figuren erschaffen hat.
Da ist das Hadern von Inés mit ihrer Mutterschaft und die Distanz zu ihrer Tochter. Da ist die enge Beziehung zu ihrer ungleichen Freundin aus dem Gefängnis – gelebte Sisterhood. Und da ist das Drama eines transsexuellen Jugendlichen, der im Elternhaus keinen Rückhalt findet.
Feministischer Chor kommentiert die Geschehnisse
Ein besonderes Stilelement in Piñeiros Roman ist der feministische Chor, der, wie in einer griechischen Tragödie, gelegentlich die Geschehnisse kommentiert. Kontrovers diskutiert er über schwierige Fragen, etwa darüber, ob Transfrauen einen Platz in der feministischen Bewegung haben, oder ob eine Frau einen Femizid begehen kann. Dabei verwendet die Autorin auch Originalzitate aus feministischen Werken, etwa von Rebecca Solnit, Rita Segato oder Judith Butler.
Claudia Piñeiro beherrscht die Kunst, in ihren Romanen gesellschaftliche Entwicklungen und Umbrüche zu dokumentieren und gleichzeitig gute und unterhaltsame Geschichten zu erzählen. Das ist ihr auch in „Die Zeit der Fliegen“ gelungen.
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