Buchkritik und Lesung

Peter Kurzeck – Frankfurt - Paris - Frankfurt

Stand
Autor/in
Johannes Ullmaier

Eine Reise ins Paris der 70er Jahre, als wäre es das Paradies – das ist das Zentrum in Peter Kurzecks neuem Buch „Frankfurt – Paris – Frankfurt“. Der Autor starb 2013, aber seine Manuskripte hatte er fast fertig.

Nachlass eines eigensinnigen Dichters

Von Peter Kurzeck nie etwas gehört zu haben, ist in jedem Sinne schade: im übertragenen, weil er ein Jahrhundertwerk schuf; und im wörtlichen, weil er nicht nur auf Papier, sondern auch akustisch eine unverwechselbare Stimme hatte. Wer diese Stimme live oder auf Band gehört hat, hört sie fortan auch beim Lesen mit.

Wie bei anderen Eigensinnigen à la Jean Paul, Robert Walser, Marianne Fritz oder Elfriede Jelinek spaltet sich die Rezeption daher in Be- oder Entgeisterung: Entweder man vernimmt in diesem Klang das Einzigartige und zugleich Universelle, folgt Kurzecks rhapsodischen Kaskaden einer so erhabenen wie atemlosen Welt- und Selbsteinholung, die nie enden kann und will. Oder man hat von seiner Fülle bald genug.

Abgeneigte wird ein neues Kurzeck-Buch so kaum bekehren können, noch weniger eine Rezension. Fans hingegen reicht die frohe Kunde, dass sein Roman „Frankfurt – Paris – Frankfurt“ schließlich erschienen ist – als viertes Werk seit seinem Tod im Jahr 2013, so als sei der Tod für ihn kein Grund, mit dem Erzählen aufzuhören.

Real verdankt sich diese schöne Illusion seinem langjährigen Lektor und berufenen Nachlassherausgeber Rudi Deuble und dem Schöffling Verlag, der das Werk (nach dem Aus des einstigen Stammverlages Stroemfeld) weiter pflegt. Kaum ein Autor hat und schenkt derzeit postum mehr Glück.

Auf Eingeweihte wirkt auch im neuen Buch vieles vertraut: zunächst die autobiographische Figur von Kurzeck selbst als Wahrnehmungs- und Schreibzentrum, hier meist 33-jährig, schon ein Autor, aber noch vorm ersten Buch; dann sein Nahumfeld aus der zehn Jahre jüngeren Partnerin Sybille und dem befreundeten (Ex-)Paar Edelgard und Jürgen; dazu das Trinken (das er später aufgibt) und die Geldnot (die ihm treu bleibt). Auch Paris tritt nicht zum ersten Mal auf. Frankfurt ist sowieso immer präsent.

Rückblende in die 60er und 70er Jahre in Paris und Frankfurt

Doch die Vertrautheit täuscht insofern, als dieser Text vor allem entstanden ist, woraus man sie bisher schöpfen konnte. Nämlich aus den Büchern von Kurzecks Romanzyklus „Das alte Jahrhundert“. Von dessen zwölf geplanten Bänden sind ab 1997 fünf zu Lebzeiten erschienen. Sie erzählen die Jahre 1983/84. Vier weitere waren mehr oder weniger ausgearbeitet. „Frankfurt – Paris – Frankfurt“ sogar sehr weit. Dass der Roman erst jetzt erscheint, obwohl die Haupthandlung schon 1977 spielt, liegt daran, dass Kurzeck ihn insgesamt als „Rückblende“ begriff. Sie sollte erst dann kommen, wenn alles andere schon erzählt war.

Zum Glück hat er beim Hessischen Rundfunk 1994 aus dem Manuskript gelesen. Und damit es nicht zu unverwirrend wird, natürlich eine Rück-Rückblende ins Jahr 1967. Aber schon hier streift er – diesmal allein, doch wie immer überwältigt – durch Paris. Und hier hört man erstmals sein ‚altes Jahrhundert‘. Den Sound, die Zeit, die Ewigkeit:

Trommeln hörst du. Kein Gesicht wirst du je wieder vergessen können. Ende Juni, stundenlang ging die Sonne nicht unter.

Ein alter Bus, die Fenster mit gelben und weißen Laken verhängt. Lastautos, knatternde Lieferwagen, Lieferwagen mit offenen Schiebetüren und Lieferwagen ganz ohne Türen. Motorräder mit Fehlzündung, ein Motorradfahrer im weißen Anzug mit orangeroten Ralleystreifen. Haushoch die [bitte K.s Atemlücke schließen] Müllabfuhr wie ein sinkendes Schiff. Im Rinnstein läuft Wasser. Uralte Citroëns, Vedettes und Dauphines, wie du sie seit Jahrzehnten nicht zu sehen bekommen hast (wo ist die Zeit denn hin?). Marktbuden, Verkaufsstände, Gepäckkarren. Ein prächtiger alter Buick, ein alter Mercedes, ein neuer Ferrari, und in den Straßen jetzt mit dem Abend im späten Licht drängen sich Europa, Afrika und das Morgenland.

Langhin vor deinen Augen die Straße: hat sich in Bewegung gesetzt und kommt dir entgegen; dann wieder, so müde bist du, kriecht sie vor dir her und in weiter Ferne in einem halben Bogen bergauf, sachte bergauf. [Ferne Lichter, die vor deinen Augen zu flimmern anfangen. Wie Sterne am Himmel, wie die Erde selbst, blau aus der Ferne. So weit weg, daß du sie nur mit äußerster Anstrengung noch zu erreichen vermagst mit deinen Blicken und Gedanken. Auf ihrem Hügel. Als ob sie nach dir rufen, die Lichter, so flimmern sie. Als ob sie seit deiner Kindheit schon nach dir rufen! Ein Abend im Juni und wie solltest du so einer Straße, dem Abend, der Ferne und dir widerstehen?

Hier spricht jemand von sich – zu sich – als ‚du‘ – für alle – und an alle. Immer rast und steht die Zeit. Immer ist man mitten in der Gegenwart, die aber immerfort mutiert, von Eindrücken geflutet wird, sich auf winzigste Details fixiert oder plötzlich kosmisch weitet. Alles kann jederzeit lebendig werden, auch Dinge und Abstrakta.

Alles wie aus einem großen verlorengegangenen Buch, in dem höchstwahrscheinlich die ganze Welt aufgezeichnet war.

Im Deutschen Herbst wie Gott in Frankreich

So weit, so einmalig. Was „Frankfurt – Paris – Frankfurt“ jedoch darüber hinaus und auch als Einstieg in den Kurzeck-Kosmos spannend macht, sind die besonderen Zeitumstände. Liegt die Handlungszeit doch ziemlich parallel zum RAF-Showdown, von der Schleyer-Entführung bis zur Todesnacht in Stammheim. Im Text selbst bleibt das fast ein blinder Fleck. Harsche Polizei- und Grenzkontrollen und ein Augenmerk für Zeitungsüberschriften sind die einzigen Indizien. Und doch schwingt der Deutsche Herbst in jeder Zeile mit.

Denn für die Frankfurter Hippie-Bohemiens zwischen Poesie und Flohmarkt, Supertramp und radikaler Linker ist diese Parisfahrt auch eine Flucht vor der deutschen Bleiernheit und Herzenskälte ins romanische Schlaraffenland einer teils realen, teils exotisch ausgemalten Multikulti-Metropole. Kurzeck und die Seinen amüsieren sich dort prächtig. Lassen sich alternativtouristisch treiben. Während daheim der Endkampf zwischen dem Kommando Siegfried Hausner und der BRD tobt.

Mag der individualanarchistische Zug in Kurzecks Weltwollen in diesem frühesten und letzten Zyklusteil noch expliziter sein als in den schon bekannten, so führt der Weg doch bereits durchs Nadelöhr des Eigensinns. Dass seine Sätze obenhin der medial heute drakonisch naturalisierten Simpel-Sprache ähnlichsehen, ist eine Falle. Denn das vermeintlich Kleine, Wenige und Immergleiche, das er in kurzen Atemwörterzügen liefert, umfasst und will unendlich viel. Es ist der Lupenblick der Allaufhebung, den sonst niemand hatte.

So stehst du, kein Gepäck, dein ganzes Leben im Gedächtnis, und doch auch wie nie gewesen! Der leere Platz. Der Himmel leer oder Mauersegler, am Abend jetzt Mauersegler. Die gleichen wie immer, wie überall abends. So stehst du mit deiner Müdigkeit. Leer der Platz, und bleibt leer. Wer soll mich denn rufen? Wer bin ich?

Im Elysium, wo Peter Kurzeck weiterschreibt, ist „Frankfurt – Paris – Frankfurt“ mittlerweile vielleicht zu drei Teilen mit dreitausend Seiten ausmäandert. Wer es dorthin schafft, kriegt sie von ihm erzählt.

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