Racha Kirakosian entmystifiziert in „Berauscht der Sinne beraubt“ populäre Vorstellungen über Ekstase und zeigt, wie vielfältig und kontextabhängig dieses faszinierende Phänomen wirklich ist.
Eine Geburt sei mit Schmerz verbunden, klar, aber auch mit Ekstase! Denn sei das Kind endlich auf der Welt, erfahre die Mutter, wie zur Belohnung, einen Zustand reiner Freude. Das zumindest bekam die Autorin während ihrer Schwangerschaft zu hören.
Als es dann aber bei ihr selbst so weit war, empfand Racha Kirakosian kaum mehr als – Erleichterung. Für die 39-jährige Mediävistin war diese Erfahrung ein Beispiel dafür, mit welch wirkmächtigen, aber eben auch fragwürdigen Narrativen das Phänomen Ekstase bis heute umstellt ist.
Visionäre Nonnen mit Sexdefizit?
In ihrem ebenso erhellenden wie unterhaltsamen Buch „Berauscht der Sinne beraubt“ stellt Racha Kirakosian allerlei beliebte Behauptungen und Erklärmuster in Sachen Ekstase in Frage. Ist der Zustand höchster Verzückung etwas Irrationales oder gar Pathologisches, wie es das westliche Denken seit der Aufklärung gern behauptet?
Fehlte es den visionären Nonnen des Mittelalters oder den Hysterikerinnen des Fin de Siècle einfach nur an Sex? Welche Rolle spielen Schmerzen oder Rauschdrogen in der Geschichte dieses Phänomens? Gerade bewusstseinsverändernde Substanzen dienen heute als beliebte Erklärungen für einschlägige Beispiele aus der Geschichte.
Zum Beispiel sollen die Visionen mittelalterlicher Mystikerinnen von Vergiftungen mit dem Mutterkornpilz Ergot, einem chemischen Verwandten von LSD, herrühren.
Wir wollen ja gern einen handfesten Beweis für die Wirkweise einer ekstatischen Vision haben! Wir sehnen uns nach der endgültigen Erklärung eines sonst so unbefriedigend mysteriösen Vorgangs. Wenn wir wüssten, dass Ergot Auslöser für Halluzinationen war, könnten wir so vieles erklären. Wäre das nicht fantastisch?
Warum Ekstase nicht gleich Ekstase ist
Zu Recht kritisiert die Autorin, dass bei solchen modernen Erklärungsversuchen die jeweiligen Erfahrungen aller historischen, religiösen und sozialen Kontexte beraubt werden. Und auch aller Unterschiede. Denn Ekstase sei eben nicht gleich Ekstase, betont Racha Kirakosian.
Weil dieses Phänomen aber eine ausgesprochen flüchtige, schwer beschreibbare und persönliche Erfahrung sei, sei es leicht zu instrumentalisieren.
Ein ganzes Kapitel widmet die Autorin den haarsträubenden Versuchen von Sozialwissenschaftlern der Nachkriegszeit, den Erfolg der Nazis als Ekstase-Phänomen wegzuerklären: mit Hitler als mächtigem Schamanen und einem verführten, also letztlich unschuldigen Volk im Trancezustand als Opfer.
Da die Autorin in Freiburg Professorin für die Kultur des Mittelalters ist, liegt hier natürlich ein Schwerpunkt ihrer Darstellung. Umso faszinierender sind Kirakosians behutsame Brückenschläge in unsere Gegenwart.
Die schmerzhaften Praktiken, mit denen christliche Mystikerinnen einst in ihren Klosterzellen ihre Körper malträtierten, um Gottes Botschaften zu empfangen: Was verbindet ihr in Handschriften dokumentierter Lustschmerz mit dem heutiger Teilnehmer von Sadomaso-Spielen?
Und die sich zur Ekstase tanzenden Sufi-Derwische im Islam, gibt es hier vielleicht Parallelen zum kollektiven Rausch auf Techno-Parties?
Vielleicht findet der Tanz zur Musik als Vehikel zur Ekstase in diesem Kulturphänomen seinen prägnantesten Ausdruck in unserer Zeit. Möglicherweise ist das der »Ort«, an dem, entkoppelt von Religion, überhaupt noch spirituelle Erfahrungen auf diese (tanzende) Weise gemacht werden.
Ekstatische Oktopusse
Der Untertitel verspricht zwar „Eine Geschichte der Ekstase“, aber schon im Vorwort dämpft die Autorin die Erwartungen. So vielfältig sei das Phänomen, dass zwölf Bände nicht ausreichten. Das stimmt, aber was Kirakosian auf über 300 Seiten an Informationen anhäuft, ist beeindruckend genug.
Darunter die Information, dass selbst Oktopusse ekstatisch werden können, wenn man ihnen die Partydroge MDMA, also „Ecstasy“, verabreicht: Die sonst so asozialen Tiere fangen plötzlich an, sich zu berühren und Körperkontakt zu suchen – wie schön!
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Rezension von Holger Heimann.
Aus dem Englischen von Thomas Gunkel
Kunstmann Verlag, 288 Seiten, 28 Euro
ISBN 978-3-95614-486-8
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