Buchkritik

Arnfrid Schenk und Stefan Schnell – Atlas der vom Aussterben bedrohten Sprachen

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Von Autor/in Andreas Puff-Trojan

Laut UNESCO gibt es derzeit 7000 Sprachen weltweit – rund die Hälfte davon sind vom Aussterben bedroht, ja, werden möglicherweise bis Ende dieses Jahrhunderts verstummt sein. Um diesen großen Verlust sichtbar zu machen, ist nun der „Atlas der vom Aussterben der bedrohten Sprachen“ erschienen. Der Wissenschaftsredakteur Arnfid Schenk und der Linguist Stefan Schnell zeigen die erstaunliche Sprachenvielfalt auf allen Kontinenten unserer Welt auf.

In gewisser Weise besitzt jede Sprache ein ihr eigenes Weltbild. Das zeigt sich etwa in bestimmten Eigentümlichkeiten. Südlich der Kalahari spricht eine Gruppe von Afrikanern „East Taa“. Die Sprecher kennen 33 verschiedene Geruchswörter. Viele von ihnen sind für uns unübersetzbar, beziehungsweise kann man sie nur deuten. 

Zum Beispiel bezeichnet lnu’a einen Geruch nach Genitalien, der als unangenehm wahrgenommen wird, während lgua einen neutralen Genitaliengeruch ausdrückt. 

Hier rümpfen Europäer die Nase. Wir riechen, denken, sprechen eben anders.  

50 bedrohte Sprachen auf den sieben Kontinenten 

Im „Atlas der vom Aussterben bedrohten Sprachen“ findet man 50 ausgewählte Sprachen. Arnfrid Schenk und Stefan Schnell haben ihr Buch nach Kontinenten gegliedert. In Asien und Ozeanien könnten bald zwei Drittel der gesprochenen Sprachen verstummen. Interessant ist der Befund für Afrika. 

Anzahl der Sprachen: 2100 / Status: Überwiegend nicht bedroht. 

Die Autoren erklären dies damit, dass in zahlreichen Ländern gerade afrikanische Sprachen als Amts- und Bildungssprache fungieren – also als Nationalsprachen.  

Stolze Basken und Comanchen als Code Talker 

Auch bei uns in Europa gibt es bedrohte Sprachen – etwa Färöisch oder Sorbisch. Die stolzen Basken und ihre vehemente Verteidigung des Baskischen hat man sicherlich vor Augen. Dabei ist es eine isolierte Sprache, also mit keiner anderen verwandt. 

Und Baskisch ist auch noch höllisch schwer zu lernen – laut einer Legende soll selbst der Teufel daran gescheitert sein, die variantenreichen Verbformen zu lernen. 

Für das Verschwinden bedrohter Sprachen gibt es klare Gründe: Stigmatisierung von Minderheiten, Bildung von Nationalstaaten mit einer Amtssprache, Ab- und Auswanderung, Epidemien. Doch der Hauptgrund ist ein anderer: Die europäisch-amerikanische Kolonialpolitik. Mittels oft äußerst gewaltsamer Umerziehung wurde den Menschen ihre Minderheitensprache förmlich ausgetrieben.

Es gibt aber auch absurde Beispiele: 50 Jahre, nachdem die US-Regierung den Comanchen die offizielle Verwendung ihrer Sprache verboten hatten, griff man nochmals auf das „Comanche“ zurück. 

Während des Zweiten Weltkriegs dienten die Comanchen als sogenannte Code Talker in der Armee. Sie verschlüsselten Nachrichten mithilfe ihrer Stammessprache – weder Japaner noch Deutsche konnten sie dechiffrieren. 

Vielfalt statt Einfalt 

Verschlüsselungen folgen oft einem arithmetischen Prinzip. In Papua-Neuguinea wird „Oksapmin“ gesprochen. Und diese Sprache verfügt über eines der seltensten Zahlwortsysteme der Welt. Wir zählen mit den Händen – fünf Finger mal zwei macht zehn. Beim Oksapmin fängt man mit dem Daumen der einen Hand an – eins. 

Dann geht man über Teile des Arms und das Ohr zum Auge hoch. Kin heißt >Auge< und >Dreizehn<. Die Nase ist lum, >vierzehn<. Anschließend fährt man auf der anderen Seite fort.  

So zählt man weiter, bis man zum zweiten Daumen zurückkommt. Dies entspricht unserer „siebenundzwanzig“. Dieses Körper-Zähl-System mit seinen 27 Zahlen ist einmalig in unserer Sprachwelt.  

Wer einmal den „Atlas der vom Aussterben bedrohten Sprachen“ aufgeschlagen hat, der will ihn nicht mehr schließen. Der Reichtum der vielen Sprachen dieser Welt ist schlicht überwältigend. Die Texte der beiden Autoren sind sachlich gehalten, lassen aber auch Witziges und Abseitiges zu. Der Aufbau des Buchs in Sprachen nach Kontinenten, die Überblickstexte, die Sprachlandkarten und die farbigen Infographiken sind ein perfekter Wegweiser durch die Vielfalt an Sprachen.

In Zeiten, wo wieder die Schotten dicht gemacht werden, wo Einfalt vor Vielfalt steht, bietet dieser Atlas ein Gegenprogramm. Denn wo Sprachen bedroht sind, ist es auch das Menschsein.  

Buchkritik Matthias Heine – Kaputte Wörter? Vom Umgang mit heikler Sprache

Matthias Heine beleuchtet den sprachgeschichtlichen Bedeutungswandel mehr oder weniger heikler Wörter und zeigt die Grenze zwischen anmaßender Sprachsäuberung und berechtigter Kritik auf.
Rezension von Martina Wehlte.
Duden Verlag, 301 Seiten, 22 Euro
ISBN 978-3-411-75690-2

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