Buchkritik

Ein fehlendes Puzzlestück: „Ich komme nicht aus der Dunkelheit raus" von Annie Ernaux

Stand

Von Autor/in Theresa Hübner

Ihre Mutter verschwindet in die Demenz – erst langsam, dann unaufhaltsam. Schon vor fast 40 Jahren hat Annie Ernaux diesen Verlust in ihren Notizen dokumentiert, radikal und ungefiltert.

Die ersten kleinen Veränderungen, die frühesten Zeichen des Verfalls ihrer Mutter, deutet Annie Ernaux noch als Folgen eines Verkehrsunfalls, bei dem ihre Mutter angefahren wurde.

Doch schon bald lautet die Diagnose: Alzheimer – und die Symptome häufen sich. Als die alte Dame 1983 nicht mehr allein leben kann, nimmt Annie Ernaux sie zu sich.

Beim Aufwachen heute Morgen, mit kleiner Stimme: ‚Ich habe Pipi ins Bett gemacht, ich konnte es nicht einhalten.‘ Dasselbe habe ich als Kind gesagt.

Ein Tagebuch des Verfalls

Während ihre Mutter bei ihr lebt, beginnt Ernaux, sich Notizen zu machen – ungeordnet, auf losen Blättern. Es entsteht ein schonungsloses Protokoll des Verfalls, das sie auch nach dem Umzug ihrer Mutter in ein Pflegeheim fortführt. Der Titel des schmalen Buches nimmt Bezug auf den letzten Satz, den ihre Mutter in einem Brief noch schreiben konnte: „Ich komme nicht aus der Dunkelheit raus“.

Nicht lange danach ist von der einst tatkräftigen, energischen Frau, die Annie Ernaux’ Mutter ausmachte, nur noch wenig übrig. Sie lebt in der Vergangenheit, erkennt ihre Tochter nicht mehr, verliert Zähne und die Kontrolle über ihren Körper. Fixiert im Sessel, auf Hilfe angewiesen wie ein Kleinkind.

Wieder festgeschnallt. Schafft es nicht, den Kuchen zu essen, ein Stück Aprikosentorte, ihre Hand findet den Mund nicht. Ich habe sie gefüttert, wie früher meine Kinder. Ich glaube, es war ihr bewusst. Sie begann, die Kuchenschachtel zu zerreißen, wollte sie essen. Ihr Kinn sinkt herab, ihr Mund steht offen. Noch nie war mein schlechtes Gewissen so groß, als wäre ich an ihrem Zustand schuld.

Nur der Instinkt bleibt

Autorin Annie Ernaux dokumentiert das langsame Sterben ihrer Mutter ohne Umschweife. Welke Haut, Uringeruch, der leere Blick, die trostlose Atmosphäre des Pflegeheims – all das wird in diesem schmalen Buch beklemmend konkret.

In etwas mehr als zwei Jahren raubt die Alzheimer-Erkrankung ihrer Mutter die Sprache, das Gedächtnis, den Willen. Zurück bleibt nur der Instinkt. Ernaux leidet, fühlt sich schuldig, obwohl sie weiß, dass sie es nicht ist.

Ich gebe ihr ein Milchbrötchen, sie findet den Mund nicht, behält es in der Hand, ihre Lippen schmatzen trotzdem. In dem Moment wünschte ich, sie wäre tot, müsste nicht mehr so leben, in diesem Verfall.

Ernaux schreibt in einer kargen, präzisen Sprache, die sich jeder Sentimentalität verweigert. Da es sich um weitgehend unredigierte Notizen handelt, lesen sich manche Passagen fragmentarisch und gerade diese Schlichtheit macht die emotionale Wucht des Textes aus.

Das zutiefst Private weitet sich bei Ernaux zu einer allgemeinen, gesellschaftlich relevanten Erfahrung. Die Frage, wie wir mit Alter, Krankheit, Pflege und Tod umgehen, schwingt immer mit.

Zwischen Liebe und Ohnmacht

Es ist eine schmerzhafte Lektüre – auch deshalb, weil die Frau, um die es geht, für viele Leserinnen und Leser der Nobelpreisträgerin Annie Ernaux keine Unbekannte ist. In ihren frühen autofiktionalen Büchern „Ein Platz“ und vor allem „Eine Frau“ hat Ernaux ihre Mutter als resolute, lebendige Persönlichkeit beschrieben, die sich aus einfachsten Verhältnissen zur Ladenbesitzerin hocharbeitete.

Dass Alzheimer auch diese starke Persönlichkeit auslöscht, ist erschütternd. Der Tod der Mutter kommt nicht überraschend, und doch stürzt er Annie Ernaux in eine tiefe Krise und Schreibblockade.

Vielleicht werde ich es eines Tages schaffen, mir die Notizen, die ich gemacht habe, noch einmal durchzulesen, werde sie als Teil einer Kontinuität begreifen können von Leben und Tod.

Gut, dass Annie Ernaux genau das geschafft und ihre Notizen über das Sterben ihrer Mutter veröffentlicht hat. Denn „Ich komme nicht aus der Dunkelheit raus“ macht auf eine stille Weise auch Mut. Es zeigt: So viele Menschen erleben, was Annie Ernaux durchgemacht hat – und sie sind nicht allein.

Und auch wenn dieses Buch bereits vor Jahrzehnten entstanden ist, wirkt es heute aktueller denn je. Die Zahl der Demenzerkrankten steigt stetig, und die Fragen, die Annie Ernaux hier stellt – nach Würde, Erinnerung und dem Abschiednehmen – betreffen uns alle.

Für Leserinnen und Leser, die ihr autofiktionales Werk kennen, ist es zudem ein fehlendes Puzzlestück – eine eindringliche, intime Ergänzung ihres literarischen Lebensbilds.

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