Der Sendeschluss kommt näher: Der neue Roman des Schriftstellers Ulf Erdmann Ziegler bietet subtile Betrachtungen und schildert einen Radio-Macher in der finalen Lebenskrise.
Der Sendeschluss rückt näher. Jedenfalls für den Radiomacher Aldus Wieland Mumme. Mit diesem Namen ist man natürlich nicht Lokalreporter. A.W. Mumme macht sich vielmehr Gedanken über die Zeit und ihre Zeichen – als hauptamtlicher Essayist beim „Bundesradio“, was an das real existierende Deutschlandradio denken lässt.
Ein Schlüsselroman ist Ulf Erdmann Zieglers „Es gibt kein Zurück“, wenn überhaupt, so aber allenfalls über die Misere des Intellektuellen in der Gegenwart. A. W. Mumme steht für eine Form des gedanklichen Raffinements, die es zunehmend schwer hat: Er ist kein Meinungsmacher, sondern ein Essayist, der schwierige Themen argumentativ ausbalanciert.
Ein armer alter weißer Mann
Als fester Freier erlebt er die Machtkämpfe beim Sender nur aus der Ferne. Um dann deren Opfer zu werden. Er ist Mitte sechzig, und es gibt von oben die Anweisung, aus Spargründen ältere Mitarbeiter auszusortieren. Mit Schrecken sieht der Melancholiker auf seine Rentenprognose.
Was für ein lächerlicher Betrag, 1183 Euro. Ginge es nach dem Papier, wäre er ab dem nächsten Jahr ein armer Mann.
Hinzu kommt, dass er zu viel Wein trinkt und auch seine Ehe nicht ganz erfüllend scheint: Seine Frau Brita hat zwar Karriere gemacht in einem Ministerium und verdient gut, so dass sie mit Garten in Zehlendorf wohnen können. Aber Brita ist eben auch wenig zuhause und Mumme oft auf sich selbst zurückgeworfen.
Zudem hat sie seinem besten Freund, dem Künstler Maik, während der Corona-Epidemie Hausverbot erteilt, weil der sich nicht impfen ließ. Seitdem ist die Freundschaft zerstört.
Autobiographie als Ausweg
Immerhin bekommt Mumme nun von einer Literaturagentin den ermunternden Auftrag, seine Autobiographie zu schreiben. Das gibt dem Roman die Legitimation, über seine Kindheit und Jugend zu erzählen. Sein Vater, ein radiophiler Altphilologe, ist früh verstorben.
Aldus Wieland ist dann mit seiner Hippie-Mutter nomadisch durch viele Länder und Kontinente gezogen. Das hat ihm Weltläufigkeit und Wurzellosigkeit zugleich eingetragen. Durch Mummes Schreibprojekt kommt eine Meta-Ebene in den Roman: Wie bringt man sein eigenes Leben in die Erzählform – und will er das überhaupt?
Zumindest kauft er sich vom stattlichen Vorschuss ein Retro-Motorrad, um damit eine Retro-Reise zu unternehmen, an Orte, die in seinem Leben viel bedeutet haben: erst nach Paris, dann zu Freunden nach Südfrankreich.
Er hofft, endlich den Zugriff auf das Schreibprojekt zu finden. Es mehren sich aber die dunklen Zeichen, spätestens als er sein Motorrad, ganz Geistesmensch, versehentlich mit Diesel betankt.
Bei allen Signalen der Krise kommt das Finale nicht nur für die Leser, sondern auch für Mumme selbst überraschend. Etwas plakativ heißt es:
Er hatte nicht die geringste Vorstellung davon, dass er vom Ende seines Lebens nur noch zwei Stunden entfernt war.
Zwiespältiges Finale
In der Literatur ist Selbstmord ein riskantes Motiv, das gut vorbereitet und psychologisch plausibel gemacht werden muss. Hier aber wirkt das melodramatische Ende aufgesetzt. Zieglers dezente, analytische Schreibweise wechselt plötzlich ins Pathetisch- Existentielle, als wäre man auf einem anderen Sender gelandet.
Dass ein Roman über einen Meister des Radioessays unter Klugheitszwang steht, ist dagegen kein Problem. Die gedankliche Nuance, die Mumme auszeichnet, ist auch die Stärke Zieglers. Dass sich bei Paaren Gegensätze anziehen, ist eine Floskel, aber was für einen feingeschliffenen Absatz macht er daraus!
Wahrscheinlich ist es richtig, dass Gegensätze sich anziehen, der Gaukler die Ernste, der graue Mann im Anzug die Frau im roten Kleid. Das ewige Mädchen den zuverlässigen Versorger, der Aufschneider die Naive, die Borderlinerin den Manipulanten, die Träumerin den Bürokraten, die Warme den Kalten, die Sanfte den Verklemmten, der Retter die Hure.
Es gibt subtile essayistische Passagen, in denen kleine Dinge und Alltagsphänomene Großes bedeuten; es gibt triftige Zeitbilder und soziologische Miniaturen. Am Ende aber hinterlässt der Roman einen zwiespältigen Eindruck.
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