In den Essays „Bonjour, Monsieur Courbet“ denkt der Lyriker und Übersetzer Philippe Jaccottet (1925 bis 2021) über Künstler, darunter viele befreundete, und ihr Werk nach.
Was geschieht beim Betrachten eines Gemäldes, das wir zum ersten Mal sehen? Welche Gedanken und Gefühle löst ein bestimmtes Werk aus? Welche Erinnerungen erzeugt es?
Wir alle kennen den Moment der Überwältigung in der Betrachtung, wir alle kennen auch den Wunsch, in Worte zu fassen, zu verstehen, was das Auge gesehen hat und wie es in unsere Sicht auf die Welt passt. Auch der Lyriker und Übersetzer Philippe Jaccottet stellte sich diese Fragen zeit seines Lebens immer wieder.
Empfindungen beim Betrachten von Gemälden
Ganze Bücher zu Künstlern entstanden, etwa über den italienischen Maler und Grafiker Giorgio Morandi das Buch „Der Pilger und seine Schale“, das 2001 im französischen Original erschien.
Auch in dem Essayband „Bonjour, Monsieur Courbet. Künstler, Freunde, kunterbunt“ findet sich ein Aufsatz über den 1890 geborenen Morandi, der vielen für seine Bilder von Vasen, Schalen und anderen Gefäßen bekannt sein dürfte. Worum geht es Jaccottet in diesen Essays?
Ich möchte nichts anderes unternehmen als den Versuch, wie bei jedem anderen Gegenstand, genau zu umkreisen, was ich vor diesem Gemälde empfunden habe, in London, gleich als ich die National Gallery betreten hatte, mit noch ganz frischem Auge; sonst nichts, so naiv oder unzureichend es scheinen mag oder ist.
Widergabe des Sichtbaren
Das schreibt er im Nachdenken über das Gemälde „Die Taufe Christi“ von Piero della Francesca. Nun gibt es viele Texte über Kunst und Kunstbetrachtung, aber nur wenige sind in einer so luziden, klaren und uneitlen Sprache geschrieben, wie die von Philippe Jaccottet.
Peter Handke nannte ihn einmal einen „Sichtbarkeitsdiener“, und wenn Jaccottet über Künstler schreibt, die ihn bewegen, dann spielt dieses Vermitteln von Sichtbarkeit eine bedeutende Rolle:
Nur weil die moderne Kunst das »Handwerk« geringzuschätzen scheint (oder einen Weg anderswo sucht), dürfen wir bei unserem Maler nicht sein Talent zur Wiedergabe dessen vernachlässigen, was man das Sichtbare nennt, die Erscheinung: Rundung, Gewicht, Leuchtkraft einer Frucht zum Beispiel, worin er, gleichwohl ganz ohne Imitation, gewissen Altmeistern gleicht.
Diese Überlegung ist einem Essay über Italo dei Grandi entnommen, einem italienischen Grafiker, der wie die Jaccottets in Grignan einen Ort zum Leben und Arbeiten gefunden hatte. Man erfährt, dass Jaccottet realistischen Strömungen in der Kunst besonders zusprach.
Darauf verweist auch der Titel der Sammlung, der mit dem Maler Gustave Courbet nicht umsonst einen Vertreter des Realismus nennt. Doch auch abstrakte Kunstwerke, Fotografien, sogar ein Marionettentheater werden in dieser Textsammlung zu Gegenständen der Auseinandersetzung, die aus der konkreten Betrachtung ins Philosophische wechseln:
Ein Freund der Künstlerinnen und Künstler
Im Grunde glaubt man, Maler malen, was sie sehen, ganz einfach die Welt, die Wirklichkeit; wahrscheinlich; doch ihre Auswahl, wenn es sich, wie hier, um aufrichtige und treue Maler handelt, ist so entschieden, ihr Eingreifen, selbst ein diskretes, so stark ausgerichtet, dass man eines mit der Zeit begreift: Ihr gesamtes Werk, Fragment um Fragment, malt ihr Paradies.
Der Sichtbarkeitsdiener Jaccottet, das zeigt dieses Zitat über die Arbeit des Grafikers und Freundes Gérard de Palézieux, zielt in seinen Betrachtungen auf das ab, was die Kunst verheißt: das Wahre, Schöne und Gute.
Jaccottet ist in diesen Essays, denen wunderschöne Reproduktionen ausgewählter Arbeiten zur Seite gestellt sind, aber nicht nur als Kunstsinniger zu erkennen, sondern auch immer als Freund der Künstler und Künstlerinnen, die er in seinem fast hundert Jahre währenden Leben kennen gelernt hat, auch ein Freund seiner Frau, deren Malerei ein besonders anrührender Text in diesem Band gewidmet ist.
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