„Schrift gewordene Klopfzeichen“ – so nannte der am 23. Dezember 2022 verstorbene Kritiker und Juror der SWR-Bestenliste Michael Braun die „Gedichte aus Guantánamo“ in seinem letzten Radiogespräch. Braun betonte, dass die in diesem Band gesammelten Texte sich nicht unter ästhetischen Gesichtspunkten lesen ließen, sondern Schrift gewordene Zeugnisse elementarer Menschenrechtsverletzungen darstellten.
Sebastian Köthe, der Herausgeber, ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Hochschule der Künste in Zürich. Er wurde mit einer Arbeit mit dem Titel „Guantánamo bezeugen“ promoviert. Rund 780 Menschen waren im exterritorialen Gefangenenlager Guantánamo interniert: Journalisten, Taliban, Dichter, Bauern, Drogendealer.
Der Widerstand gegen die unrechtmäßige Gefangennahme und die Folter, die dort ausgeübt wurde, war, wie Köthe in seinem Nachwort schreibt, nicht nur rein destruktiv: Die Gefangenen „beteten zusammen und wählten geheime wie öffentliche Repräsentanten. Sie bildeten einander in Sprachen, Landesgeschichten und Traditionen. Sie tauschten Lieder und Bräuche aus.“
Im August 2007 veröffentlichte ein amerikanischer Anwalt eine Sammlung von 22 Gedichten von 17 Gefangenen aus Guantánamo. Daraus entwickelte sich eine Kette von Informationen über weitere, im Lager entstandene Gedichte, die zum Teil mündlich rekonstruiert und unter erschwerten Bedingungen übersetzt wurden.
„Poems from Guantánamo“ war zwischenzeitlich der meistverkaufte Gedichtband in den USA. Es sind ergreifende Texte der Verzweiflung, der Anklage, der Trauer, aber auch, in wenigen Augenblicken, der Hoffnung auf Veränderung.