Gedenktag am 27. Januar 2025

80 Jahre nach Auschwitz: Literatur als Mahnung und Erinnerung

Stand
Autor/in
Christoph Schröder
Frank Hertweck
Theresa Hübner
Nina Wolf

Paul Celan, Cordelia Edvardson oder Imre Kertész halten die Erinnerung an die Shoah wach – eine Mahnung gegen das Vergessen in einer Welt voller neuer Gefahren.

Am 27. Januar 1945 wurde Auschwitz befreit. Nun, 80 Jahre später, sterben die letzten Zeitzeugen, doch die Stimmen der Überlebenden sind wichtiger denn je.

Während Nationalismus, Antisemitismus, Rassismus und autoritäre Ideologien weltweit wieder an Einfluss gewinnen, wird die Aufgabe, das Erinnern lebendig zu halten, immer dringlicher.

Literatur hat die Kraft, Brücken zu schlagen zwischen Vergangenheit und Gegenwart, sie macht das Unvorstellbare greifbar und bewahrt das Vermächtnis der Opfer der Shoah und das Gedenken an die Millionen ermordeten Juden, Homosexuelle, Sinti und Roma, Menschen mit Behinderung, Widerständler, Kriegsgefangene und andere Leidtragenden des Nazi-Regimes.

Zum 80. Gedenktag stellt die SWR Kultur Literaturredaktion einige Bücher vor, die uns besonders berühren und deren Autoren und Autorinnen Erinnerungen in ihrem literarischen oder dokumentarischen Werk konservieren.

Imre Kertész: Roman eines Schicksallosen

Imre Kertész
Imre Kertész Signatur in Christoph Schröders Ausgabe von „Roman eines Schicksallosen“. Er hat den Literaturnobelpreisträger 1996 persönlich getroffen.

Selten kommt es einmal vor, dass ein Roman einen völlig neuen Blick auf die Welt, und sei es auch ein historisches Geschehen, eröffnet. Imre Kertész‘ „Roman eines Schicksallosen“ ist ein solches Buch. Kertész, 1929 in Budapest geboren, wurde im Alter von 14 Jahren über Auschwitz in das KZ Buchenwald verschleppt.

Der „Roman eines Schicksallosen“ erzählt von diesen Erfahrungen auf eine derart provokative Weise, dass das Buch in Ungarn lange Zeit totgeschwiegen wurde. Kertész hatte daran von 1960 bis 1973 gearbeitet, doch das Manuskript wurde zurückgewiesen. Kertész selbst hat in seinen Tagebüchern betont, er habe keinen Auschwitz-Roman geschrieben. Aber was dann?

Einer der wichtigsten Romane des 20. Jahrhunderts

Das Entscheidende an diesem Buch, das in der deutschen Übersetzung von Christina Viragh 1996 für Furore sorgte, ist die unschuldige Perspektive des Vierzehnjährigen, der seine Erlebnisse so schildert, wie er sie augenblicklich empfunden hat: Er zeigt Verständnis für die Strenge der deutschen Aufseher. Ihm gefallen die sauberen Uniformen, die gepflegten Grünflächen. Es ist unerträglich. Das moralische Urteil wird an uns, die Leser, zurückdelegiert.

Vor allem der Schluss des Romans sorgte im kommunistischen Ungarn für Empörung. Die existentielle Erfahrung des Lagers habe, so Kertész, aus ihm einen in Systemen nicht funktionalen und mithin auch in gewissem Sinne freien Menschen gemacht.

„Ja, davon, vom Glück der Konzentrationslager, müsste ich ihnen erzählen, das nächste mal, wenn sie mich fragen. Wenn sie überhaupt fragen. Und wenn ich es nicht selbst vergesse.“ Mit diesen Sätzen endet einer der wichtigsten Romane des 20. Jahrhunderts. Imre Kertész wurde 2002 mit dem Literatur-Nobelpreis ausgezeichnet. Er starb 2016 in Budapest.

Christoph Schröder, freier Literaturkritiker

Paul Celan: Todesfuge

Lyrik | Zum 50. Todestag von Paul Celan Paul Celan und die "grauere Sprache"

„Die Todesfuge“ ist Paul Celans (23. November 1920 - 20. April 1970) bekanntestes Gedicht. Später suchte er nach einer faktischeren Sprache. Neue Wörter für seine Lyrik fand er zum Beispiel in der Gletscherkunde. Von Helmut Böttiger.

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„Nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben, ist barbarisch, und das frißt auch die Erkenntnis an, die ausspricht, warum es unmöglich war, heute Gedichte zu schreiben.“ 

Das Heute dieses Banns liegt über 70 Jahre zurück, geschrieben hat es der Philosoph und Kopf der Frankfurter Schule, Theodor W. Adorno. Doch damals war die poetische Widerlegung des Dichtungsverbots schon längst geschrieben: „Die Todesfuge“ von Paul Celan. Ihre ersten Worte sind von paradoxer Kraft: „Schwarze Milch der Frühe wir trinken sie abends / wir trinken sie mittags und morgens wir trinken sie nachts….“

„Der Tod ist ein Meister aus Deutschland“

Celans Eltern wurden als Juden im zweiten Weltkrieg in ein Arbeitslager deportiert, sie überlebten nicht. Celan selbst kehrte nach der Entlassung aus einem rumänischen Lager nach Cernowitz zurück. Er hat den Tod seiner Eltern nie verwunden. Im Frühjahr 1945 schreibt er nach seinem eigenen Zeugnis die „Todesfuge“.

Es ist ein Text voller Anspielungen: die Bibel spielt eine Rolle, Goethes „Faust“, Rilke, Trakl und viele mehr,  aber vor allem ist es ein Text, der durch den Vortrag lebt, durch den Klang, das fugenartige Wandern der Motive durch die Zeilen, das Echo, das prägnante Formulierung hervorrufen.

Der Zwang der Fugenform verwandelt sich schlagartig in Schönheit.  Das hat man ihm vorgeworfen. Und Celan wurde vom Erfolg seines Gedichts überrascht, „lesebuchreif“ sei es „gedroschen“, er wolle nicht länger „musizieren“. Aber er hat die Antwort der Poesie auf den Mord an den europäischen Juden geliefert: „Der Tod ist ein Meister aus Deutschland.“ 

Frank Hertweck, SWR Kultur Literaturchef

Tal Bruttmann, Stefan Hördler, Christoph Kreutzmüller: Ein Album aus Auschwitz

Bilder aus Tal Bruttmann, Stefan Hördler, Christoph Kreutzmüller: Ein Album aus Auschwitz, Wallstein Verlag
Bild aus Tal Bruttmann, Stefan Hördler, Christoph Kreutzmüller: Ein Album aus Auschwitz, Wallstein Verlag

Das sogenannte „Album aus Auschwitz“ ließ die SS 1944 anfertigen. Die Fotos darin zeigen Transporte ungarischer Juden im sogenannten „Ungarn Programm“, dem Hunderttausende zum Opfer fielen. Das Album wurde von der Jüdin Lilly Jacob nach ihrer Befreiung gefunden und liegt heute in der Gedenkstätte Yad Vashem in Israel.

Wichtige Erkenntnisse über den Blick der Täter

Die Szenen von Menschen bei ihrer Ankunft im Lager, der Selektion und dem Weg in die Gaskammern haben das Bild vom Holocaust entscheidend geprägt. 

Das Buch „Ein Album aus Auschwitz. Die Inszenierung des Verbrechens“ ermahnt die Betrachter zum kritischen Blick, der immer der Blick der Täter ist. Die Herausgeber haben die ursprüngliche Abfolge der Fotoserien rekonstruiert und wichtige Erkenntnisse gewonnen. Ein neuer Blick auf scheinbar Altbekanntes und ein Wechsel der Perspektive von den Tätern auf die Opfer. 

Theresa Hübner, SWR Kultur Literaturredakteurin

Cordelia Edvardson: Gebranntes Kind sucht das Feuer

Buchkritik Cordelia Edvardson – Gebranntes Kind sucht das Feuer

Cordelia Edvardsons autobiographischer Roman „Gebranntes Kind sucht das Feuer" ist ein wichtiges literarisches Dokument des Holocausts. Zudem erzählt er die Geschichte einer historisch hoch belasteten Mutter-Tochter-Beziehung. Denn Edvardson war die Tochter der Schriftstellerin Elisabeth Langgässer, der zuliebe sie ins KZ ging.

Aus dem Schwedischen von Ursel Allenstein.
Mit einem Nachwort von Daniel Kehlmann
Hanser Verlag, 143 Seiten, 22 Euro
ISBN 978-3-446-27756-4

SWR2 lesenswert Kritik SWR2

„Gebranntes Kind sucht das Feuer“ wurde nach seinem Erscheinen im Jahr 1986 als ein Abrechnungsbuch mit der egoistischen Mutter interpretiert. Edvardsons Mutter war die Schriftstellerin Elisabeth Langgässer, die 1950 starb und der posthum im gleichen Jahr der Büchnerpreis zuerkannt wurde. Langgässer hatte Ende der 1920er-Jahre eine kurze Affäre mit dem jüdischen Staatsrechtler Hermann Heller, aus der Cordelia Edvardson als uneheliches Kind hervorging.

Ein bedeutsames historisches und persönliches Zeugnis

Edvardson selbst hat sich gegen die Interpretation ihres Buchs als einen Racheakt stets gewehrt: Nicht die Mutter, sondern das NS-Regime sei verantwortlich für das, was ihr geschehen sei, so hat sie es ausgedrückt.

Und doch: Im entscheidenden Augenblick hat die Mutter die Tochter aus Feigheit im Stich gelassen; kurz darauf wurde die Vierzehnjährige abgeholt und ins Lager gebracht, zunächst nach Theresienstadt, dann nach Auschwitz. „Gebranntes Kind sucht das Feuer“ ist ein schmales, aber ungemein eindrückliches Buch. Und es ist eines jener Werke, die mit dem Mythos aufräumen, in einem deutschen Konzentrationslager sei es stets wohlorganisiert zugegangen. Das Gegenteil war der Fall.

Edvardson arbeitete als Schreibkraft für den KZ-Arzt Josef Mengele. Die Szenen, in denen sie von der Selektion der Neuankömmlinge an der Rampe erzählt, sind auch heute noch schwer zu ertragen.

Als der Krieg endete, war Edvardson 16 Jahre alt, wird vom roten Kreuz nach Schweden gebracht und kommt in einer Pflegefamilie unter. 2012 ist sie in Schweden gestorben. Ihr Buch ist ein bedeutendes historisches und persönliches Zeugnis.

Christoph Schröder, freier Literaturkritiker

Barbara Yelin, Miriam Libicki und Gilad Seliktar: Aber ich lebe. Nach den Erinnerungen von Emmie Arbel, David Schaffer, Nico Kamp und Rolf Kamp

But I live (A Film about Emmie Arbel and Barbara Yelin)

Wie kann das Unaussprechliche erzählt werden? Die drei Comic-Zeichner*innen Barbara Yelin, Miriam Libicki und Gilad Seliktar dokumentieren in der Graphic Novel „Aber ich lebe“ in eindringlichen Bildern die Geschichten von Holocaust-Überlebenden, die als Kinder die Grauen der Konzentrationslager erlebt haben. Für das Projekt trafen sie sich mit den Zeitzeugen und Zeitzeuginnen Emmie Arbel, David Schaffer, Nico und Rolf Kamp.

Verbreitet das Gute in der Welt, nicht das Schlechte!

Der wohl berühmteste Comic über den Holocaust stammt von Art Spiegelman, im 1986 erschienenen „Maus" erzählt er die Geschichte eines Überlebenden in Tierbildern. „Aber ich lebe“ kommt ohne Tiermetaphern aus, es ist eine berührende Graphic Novel, das nicht nur die Traumata aus der Kindheit der Erzählenden einfängt, sondern auch visuell eindrucksvoll und mit einfühlsamen Illustrationen die unglaublichen Lebensgeschichten erzählt.

„Aber ich lebe“ ist nicht nur ein wichtiges Erinnerungswerk, sondern auch ein persönlicher Appell von Emmie Arbel, David Schaffer, Nico und Rolf Kamp, die Geschichte der Shoah nie zu vergessen und das Erinnern weiterzutragen.

Oder, um es mit den Worten von Emmie Arbel aus dem Nachwort zu sagen, die mit Blick auf die aktuellen Weltgeschehnisse besonders kraftvoll wirken: „Meine Worte richten sich besonders an euch, die jüngere Generation: Akzeptiert Menschen, die anders sind. Und verbreitet das Gute in der Welt, nicht das Schlechte!"

Nina Wolf, SWR Kultur Literaturredakteurin

József Debreczeni: Kaltes Krematorium

Der ungarische Journalist József Debreczeni wird 1944 nach Auschwitz deportiert. Er entgeht mit Glück dem Tod in den Gaskammern, doch in verschiedenen Arbeitslagern erlebt er das pure Grauen. In seinem berührenden Zeitzeugenbericht „Kaltes Krematorium. Bericht aus dem Land namens Auschwitz“ beschreibt er die brutale Lagerhierarchie, die die SS unter den Gefangenen etablierte.

Ein wichtiges Stück Zeitgeschichte über das Grauen des Holocaust

Wer einen begehrten Posten als Kapo, Lagerältester oder Küchenpersonal bekam, hatte bessere Überlebenschancen.  Ein perfides Machtsystem, in dem „Sklaven, Sklaven verprügelten“. In Bildern, die sich ins Gedächtnis einbrennen, beschreibt der als Journalist im Schreiben geübte Debreczeni diese unvorstellbare Hölle als ständigen Kampf um Essen, Tabak und Kleidung. 

Das Buch ist über 70 Jahre nach der Erstveröffentlichung auf Ungarisch endlich auf Deutsch erschienen. Ein wichtiges Stück Zeitgeschichte über das Grauen des Holocaust. 

Theresa Hübner, SWR Kultur Literaturredakteurin

lesenswert Magazin Bücher gegen das Vergessen – zum 80. Jahrestag der Befreiung von Auschwitz

Mit neuen Büchern von Édouard Louis, Michael Köhlmeier, Navid Kermani und Sumit Paul-Choudhry.

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Buchkritik Rebecca Clifford - »Ich gehörte nirgendwohin.« Kinderleben nach dem Holocaust

Was man lange leugnete: Traumatische Erfahrungen graben sich tief in das kindliche Gedächtnis ein. Was das für die Identitätsfindung von jüdischen Menschen bedeutete, die als Kinder den Holocaust überlebten, dazu hat die kanadische Holocaustforscherin Rebecca Clifford die erste umfassende Studie geschrieben.
Rezension von Anselm Weidner.
Aus dem Englischen von Stephan Gebauer
Suhrkamp Verlag, 447 Seiten, 28 Euro
ISBN 978-3-518-43051-4

SWR2 lesenswert Kritik SWR2

Zeitgenossen Die Holocaustüberlebende Inge Auerbacher

Inge Auerbacher wuchs als Kind strenggläubiger Juden im südbadischen Kippenheim und in Jebenhausen auf. Mit sieben Jahren wurde sie gemeinsam mit ihren Eltern in das Ghetto Theresienstadt verschleppt. Ihre Kindheitserinnerungen als Überlebende des Holocaust hat Inge Auerbacher in einem Kinderbuch zusammengefasst.

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Christoph Schröder
Frank Hertweck
Theresa Hübner
Nina Wolf