Alle Menschen mit einem XY-Chromosomen verschwinden: Ehemänner, Väter, Söhne, Freunde. Kein Sexismus, keine Unterdrückung, keine Übergriffe. Sandra Newman erforscht in ihrem Roman „Das Verschwinden“ eine Welt ohne Männer, dafür aber mit feministischen Utopien und ambivalenten Figuren.
Als es passiert, als ihr Sohn und ihr Ehemann von einer Sekunde auf die nächste an einem Augustabend verschwinden, bemerkt es Jane nicht.
Um 19:14 Uhr passierte ein intensives Nichts, ein Taumel, der nicht von den Nerven oder dem Gehirn herrührte. Es würde mir später als eine Art Drogenrausch im Gedächtnis bleiben. Als es vorbei war, hatte ich das Gefühl, Leo und Benjamin wären verschwunden, doch ich tat es schnell als Albernheit ab. Ich sah zum Zelt, wo das Tablet leuchtete, ein belebter Flecken. Ich rief nicht nach ihnen. Ich wollte Benjamin nicht wecken und gab mich wieder meinen Gedanken hin.
Alle Menschen mit einem XY-Chromosom verschwinden
Jane ist mit ihrem Mann Leo und ihrem 5-jährigen Sohn Benjamin in den kalifornischen Bergen zelten. Sie verbringt die Nacht draußen auf der Hängematte und merkt erst am nächsten Morgen, dass die beiden verschwunden sind.
Und nicht nur sie: Alle Menschen mit einem Y-Chromosom. Alle Männer, trans Frauen und nicht binäre Menschen. Auch alle ungeborenen Föten mit einem Y-Chromosom verschwinden und mit ihnen ganze Regierungen und Sportmannschaften.
Flugzeuge stürzen ab, weil das Cockpit leer ist, Raffinerien und Kraftwerke schließen, weil qualifizierte Arbeitskräfte fehlen, Strom- und Wasserversorgung stürzen in der ersten Zeit nach dem Schock ein. Und noch etwas ist weg: Das Patriarchat.
Herrenclubs. Männerrechte. Frauenzeitschriften. Feminismus. Verschwunden. Die breite Hand auf deiner Schulter. »Du bist wunderschön«, gesprochen mit dieser bestimmten Autorität. Vorbei. Oder wenn du an einer Straßenecke auf eine Gruppe von Männern triffst. Wie sie verstummen und dich anstarren. Deinen Körper, nicht dein Gesicht. Schritte hinter dir in der Dunkelheit. Große Hände um deinen Hals. Ihn nicht aufhalten können. Vorbei.
Eine Welt ohne Patriarchat – eine Idylle?
Ganz unmittelbar zeigt Autorin Sandra Newman die Folgen des Verschwindens auf: Plötzlich sind die Zurückgebliebenen befreit von den Zwängen der patriarchalen Gesellschaft. Der erste Eindruck dieser neuen Welt: eine Idylle, gleichzeitig ist die aber auch nicht frei von Schmerz und Trauer. Denn natürlich gab es auch Männer, die geliebt wurden.
Eine Gleichzeitigkeit, die für Jane mitunter schwer auszuhalten ist und die sie von Anfang an spürt. Sie trifft auf eine Gruppe von Frauen und Mädchen. Die Kinder spielen, es läuft Musik, die Frauen unterhalten sich angeregt und helfen sich gegenseitig. Eine liebliche, märchenhafte Szene. Eine Welt ohne Wölfe, denkt Jane.
Und da war der Moment – in dem mich die Erkenntnis traf, dass die neue Welt die bessere war. Schon jetzt war sie besser. Es gefiel mir hier. Der Gedanke brachte mich zum Weinen. In meinem Kopf behauptete ich Gott gegenüber das Gegenteil. Ich sagte Gott, dass ich in einer Welt ohne Männer nicht leben wollte, selbst wenn meine eigene Familie wundersamerweise verschont geblieben wäre. Dieser Welt würde eine ganze Dimension von Erfahrung fehlen.
Sind Frauen die besseren Menschen?
Schnell wird man in diese neue Welt, die Sandra Newman in ihrem Roman „Das Verschwinden“ zeichnet, hineingezogen. Was auffällt: Die große Frage des Warums steht zunächst nicht im Vordergrund. Newman liefert erst gegen Ende des Romans eine mythische Erklärung für das Verschwinden, die einen etwas unbefriedigt zurücklässt.
Viel wichtiger und anregender ist, wie Newman die Hintergrundgeschichten der Frauen mit den aktuellen Ereignissen im Roman verwebt. Und so im Laufe der Geschichte mit zwei Behauptungen aufräumt: Frauen seien die besseren Menschen. Und eine Welt ohne Männer automatisch eine bessere.
Da ist etwa Evangelyne, eine schwarze Politikerin. Sie ist die Gründerin und Anführerin einer Partei, die schnell das Machtvakuum für sich nutzt und im Raum Los Angeles von der Müllabfuhr bis zum Elektrizitätswerk die Dinge wieder in Gang bringt. Wie eine Messias wird sie von ihren Anhängerinnen verehrt. Auch Jane wird von ihr angezogen. Sie schließt sich Evangelynes Partei an und wird zur Liebhaberin und Unterstützerin der Politikerin.
Ambivalente und komplexe Figuren
Die beiden verbindet eine alte Freundschaft, die auf einer geteilten Erfahrung beruht: Beide waren in der alten, patriarchalen Welt sowohl Opfer als auch Täterin. Jane ist eine verurteilte Sexualstraftäterin. Ihr Ballettlehrer manipulierte sie und brachte sie dazu, Sex mit minderjährigen Jungen zu haben. Evangelyne hingegen hat als junge Frau zwei Polizisten erschossen, die ihre Familie auf dem Gewissen haben.
Es sind ambivalente und komplexe Figuren, die Newman hier in einem reduzierten, fast nüchternen Stil zeichnet. Und die ihren Roman zu einem Lesevergnügen machen, weil mit ihnen die utopischen und politischen Ideen mit Leben gefüllt werden.
Später in dem hübschen Hotel, nach Mitternacht und nachdem wir stundenlang gevögelt hatten, stand Evangelyne auf und stellte sich nackt ans Fenster. Natürlich liefen die Frauen zu dieser Zeit oft nackt herum; die ganze Welt war eine Mädchenumkleide.
Die ganze Welt eine Mädchenumkleide
Doch wie in jeder Mädchenumkleide, gibt es auch in dieser männerlosen Welt Missgunst, Neid und Geheimnisse – und ein großes Gesprächsthema: Die Männer. Die sind nämlich zu sehen in kurzen Videoclips, die im Netz auftauchen und von denen keine weiß, wer dahintersteckt. „The Men“ heißen diese verstörenden Clips. Sie zeigen Gruppen von verschwundenen Männern, die zombie-haft durch eine apokalyptische Landschaft wandern.
Zuschauerinnen erkennen in den Videos Angehörige wieder und nach einiger Zeit auch die verbrannten Landschaften und zerstörten Städte. Den Frauen wird klar: Was sie hier sehen, wäre die ausgebeutete, verbrannte Zukunft einer patriarchalen Welt gewesen.
Wir schauten „The Men“, während Nord- und Südkorea wiedervereinigt wurden und die ersten weiblichen Kardinäle die erste weibliche Päpstin wählten. Kanada wurde von Waldbränden und Südamerika von Dürre heimgesucht. Die Fischpopulationen im Atlantik erholten sich, und auf Moskaus Straßen wurden Elche gesichtet.
Politische Parabel mit fein erdachten Figuren
Eine Welt ohne Männer, ohne Sexismus, ohne Patriarchat und Unterdrückung – ist das eine feministische Utopie? Newman gibt darauf vielschichtige Antworten. Ihre Figuren hadern mit dem Verlust der Männer, ebenso wie mit den neuen ambivalenten Verhältnissen. Zu denen gehört auch eine neue Politpopulistin wie Evangelyne, die ein ähnliches Macht-Monopol anstrebt wie die dominanten Männer vor ihr.
Sandra Newmans politische Parabel überzeugt. Denn hier erschlägt die politische Fantasie nicht die Literatur. Vielmehr öffnet Newman mit ihren fein erdachten Figuren und ihren Lebensgeschichten das Denken. Und das ist gerade in den verhärteten Debatten unserer Zeit besonders wichtig.
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Lesetipp des Autors Ulf Stolterfoht.
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Verlag Matthes & Seitz, 28 Euro
ISBN: 978-3-95757-766-5
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