Verschwörung in den Alpen

„Die Theorie von Allem“: Die deutsche Antwort auf Nolans „Oppenheimer“

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AUTOR/IN
Rüdiger Suchsland

1962 in den Schweizer Alpen: Zwei Dutzend herausragende Physiker treffen sich zu einem quantenphysikalischen Kongress. Bald häufen sich die merkwürdigen Ereignisse, Vergangenheit und Zukunft mischen sich. Regisseur Timm Kröger liefert einen der schönsten, ungewöhnlichsten deutschen Filme seit Jahren.

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Gespenster der deutschen Geschichte sind allgegenwärtig

Dieser Film Noir hat eigentlich drei Anfänge und mindestens ebenso viele Enden. Dazwischen liegt eine Geschichte, die sich gradlinig vollzieht, obwohl sie an der Oberfläche zunächst chaotischer und verworrener erscheint.

Doch wer sich dem von Regie und Drehbuch ausgelegten Erzählfaden vertrauensvoll überlässt, wird mit sicherer Hand ins frühe Nachkriegsdeutschland des Jahres 1962 geführt, in ein Land, in dem die Gespenster der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts noch überaus präsent sind. 

Filmstill
1962. Johannes Leinert (Jan Bülow) reist mit seinem Doktorvater (Hanns Zischler) zu einem physikalischen Kongress ins Hotel Esplanade in den Schweizer Alpen. Bild in Detailansicht öffnen
Filmstill
Mathematische Esoterik oder harte Physik? Johannes und sein Doktorvater sind sich in vielen Dingen uneins. Bild in Detailansicht öffnen
Filmstill
Ein iranischer Wissenschaftler soll hier einen bahnbrechenden Vortrag zur Quantenmechanik halten. Doch der Redner, von dem nichts weniger als eine Theorie von Allem erwartet wird, verspätet sich und die feine Gesellschaft fristet die Zwischenzeit mit geistreichen Dinnerpartys. Bild in Detailansicht öffnen
Filmstill
Eine geheimnisvolle Pianistin (Olivia Ross) zieht Johannes in ihren Bann, doch etwas stimmt nicht mit ihr. Sie weiß Dinge über ihn, die sie gar nicht wissen kann. Bild in Detailansicht öffnen
Filmstill
Als einer der deutschen Physiker auf monströse Weise ums Leben kommt, treten zwei Ermittler auf den Plan, die einen Mord vermuten. Ist Johannes in den monströsen Todesfall verwickelt? Die Kommissare Amrein (Philippe Graber) und Arnold (David Bennent) ermitteln. Bild in Detailansicht öffnen
Filmstill
Während bizarre Wolkenformationen am Himmel auftreten, verschwindet die Pianistin spurlos und Johannes gerät auf die Spur eines Geheimnisses, das tief unter dem Berg Wurzeln geschlagen hat. Bild in Detailansicht öffnen

Ein bisschen Zauberberg, ein bisschen Nachkriegsthriller

Die eigentliche Handlung kreist um den Physikstudenten Johannes Leiner, der voller Hoffnung aufbricht in die weite Welt, um dort das Fürchten zu lernen und erwachsen zu werden. Das erinnert nicht zufällig an „Die zweite Heimat" von Edgar Reitz und deren Hauptfigur Hermännchen, der ebenfalls 1962 ähnlich optimistisch in die Welt hinausgeht. 

Gemeinsam mit seinem Doktorvater Professor Strathen reist Johannes auf einen Physiker-Kongress in den Alpen. Ein bisschen Zauberberg, ein bisschen Nachkriegsthriller. Über allem schweben unausgesprochene Erfahrungen von Weltkrieg und Bombenangriffen, Vertreibung und Völkermord, neuer Demokratie und uraltem Antisemitismus.

Quantenphysik im realen Leben

Johannes lernt die Pianistin Karin kennen, die über ihn Dinge zu wissen scheint, die nur er selbst kennen kann, oder die gar in der Zukunft liegen. Bald steigert sich Johannes' Verwirrung zusehens.

Er glaubt, einer Verschwörung auf der Spur zu sein. Wird er selbst verrückt oder die Welt? Oder wird hier und jetzt einfach die „Vielweltentheorie" der Quantenphysik wahr? 

Auf dieser Ebene erscheint „Die Theorie von Allem“ nicht weniger, als die deutsche Antwort auf Christopher Nolans „Oppenheimer" zu sein. Beide Filme handeln von der Verbindung von Wissenschaftsgeschichte, Atomphysik, und der Situation des Kalten Kriegs. 

Einer der ungewöhnlichsten deutschen Filme seit Jahren

Im Gegensatz zu Nolans Film erzählt Kröger aber nicht gradlinig, sondern verschachtelt, ambivalent, auf mehreren Ebenen. Damit zeigt er die einmalige Macht des Kinos: Die Leinwand gibt auch kompliziertesten physikalischen Formeln unmittelbar sinnliche Gestalt, sie hält Widersprüche aus, und fragt nicht nach Wahrheit, sondern nach Überzeugungskraft. 

Timm Kröger versucht in unterhaltsamer Form, die Wirklichkeit zu begreifen, und holt geschichtsphilosophisch weit aus. Es ist die Logik des Traums, die hier dominiert. „Die Theorie von Allem" ist ein Werk von bestechender Schönheit und einer der ungewöhnlichsten deutschen Filme seit Jahren.

Trailer „Die Theorie von Allem“, ab 26.10. im Kino:

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Lange hatten diese Fragen nur eine naturphilosophische Bedeutung. Doch diese Phänomene werden vermutlich die Grundlagen künftiger Techniken sein wie Quantencomputer – die ersten gibt es ja schon –, Quantenkommunikation und Teleportation ("Beamen"). Auch die Frage, wie wirklich die Wirklichkeit ist, stellt sich unter den Erkenntnissen der Physiker noch einmal neu.
Anton Zeilinger lehrt an der Universität Wien.
Über die Forschungen, für die die Schwedische Akademie der Wissenschaften ihm und seinen Kollegen Alain Aspect und John Clauser 2022 den Nobelpreis zuerkannt haben, hat er schon 2013 in SWR2 Wissen berichtet unter dem Titel: Die zweite Quantenrevolution. Wie Physiker über die Wirklichkeit, den Zufall und die Zukunft denken.

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