Kinofilm

Absturz eines Superstars: „Tár“ mit Cate Blanchett erzählt von Machtmissbrauch in der Klassikszene

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AUTOR/IN
Julia Haungs

Machtmissbrauch, MeToo und Cancel Culture im Kulturbetrieb nimmt sich Regisseur Todd Field in seinem ersten Kinofilm seit 15 Jahren vor. Ein Film, den er nach eigener Aussage entweder mit Cate Blanchett in der Hauptrolle oder gar nicht drehen wollte. Glücklicherweise hat Blanchett zugesagt und ist jetzt für den Oscar als beste weibliche Hauptdarstellerin nominiert.

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Musikalisch ein Genie, menschlich eine Katastrophe

Musikalisch ist Lydia Tár ein Genie, menschlich eine Katastrophe. Die charismatische Chefin der Berliner Philharmoniker vermischt Geschäftliches und Privates, betrügt ihre Lebensgefährtin und missbraucht ihre privilegierte Position immer wieder, um ihren Willen durchzusetzen. Wie viele mächtige Menschen kommt sie damit lange durch. Zu Beginn des Films steht sie auf dem Höhepunkt ihrer Karriere. Demnächst wird sie ihre Einspielung aller Mahler-Sinfonien beenden.

Affäre aus der Vergangenheit holt Lydia Tár ein

Im Verlauf von „Tár“ muss die Dirigentin jedoch feststellen, dass sie jenseits des Podiums weder die Zeit anhalten noch ihr öffentliches Bild kontrollieren kann. Eine Affäre aus der Vergangenheit holt sie ein. Und plötzlich kommt so ziemlich alles auf den Tisch, was man gegen Lydia Tár vorbringen kann. In der Gunst von Publikum und Klassikbranche stürzt sie ab. Auch das Orchester beginnt, sie bei den Proben mit anderem Blick zu sehen.

Böses Blut in der realen Klassikszene

Cate Blanchett als fallender Superstar ist ein Naturereignis. Ihre Figur spielt sie kraftvoll und vielschichtig. Mit expressiver Hingabe, wenn sie dirigiert und versteckt hinter einer eisigen Maske, wenn es um Zwischenmenschliches geht.

In der realen Klassikszene hat „Tár“ für böses Blut gesorgt. Die Spitzendirigentin Marin Alsop, zu deren Leben der Film manche Parallele aufweist, sagte, sie fühle sich von dieser Darstellung als Dirigentin, Frau und Lesbe beleidigt.

Machtmissbrauch passiert auch durch Frauen

Unbestritten waren die Schuldigen bei den großen MeToo-Skandalen der Kulturbranche Männer. Dennoch macht die Besetzung der Hauptrolle mit einer Frau den Machtmissbrauch umso deutlicher – da er sich nicht auf das Patriarchat reduzieren lässt. Es geht vielmehr darum, wie Macht Menschen verändert und welche Strukturen solches Fehlverhalten begünstigen.

Ebenso genau untersucht Regisseur und Drehbuchautor Todd Field die Mechanismen der Cancel Culture, die greifen, wenn ein Star stürzt. Bald kursieren im Internet Halbwahrheiten und Lügen, die die Täterin Tár auch als Opfer eines Medien-Mobs erscheinen lassen. Der Film zeichnet ein komplexes Bild der Gegenwart, ohne sich dabei auf eine Seite zu schlagen.

Ein Bravourstück für die Oscar-Anwärterin Cate Blanchett

Noch uneindeutiger wird das psychologische Drama durch die irrealen Horror-Momente, die immer wieder in Társ Realität einbrechen und eine paranoide Atmosphäre schaffen: In ihrem Alltag entdeckt sie wiederkehrende geometrische Muster, nachts hört sie seltsame Geräusche oder hat das Gefühl, dass Dinge nicht mehr da liegen, wo sie hingehören.

Mit „Tár“ hat Todd Field ein weiteres Mal einen ungewöhnlich vielschichtigen Film gemacht. Ein Meisterwerk von kühler Eleganz und ein Bravourstück für Cate Blanchett.

Trailer „Tár“ von Todd Field, ab 2.3. im Kino

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