Venezuela geriet nach dem Ölboom in den 1970er Jahren in eine Dauerkrise, in der 1999 Hugo Chávez zum Präsidenten Venezuelas wurde und sein Projekt des „Sozialismus des 21. Jahrhunderts“ in Angriff nahm.
Nach Cuba und Nicaragua ist Venezuela ein weiteres trauriges Beispiel dafür, wie ein Hoffnungsmodell durch die Egozentrik von Einzelpersonen und die Korruption einer kleinen Machtelite zugrunde gerichtet wird. Zwar sind die Ursachen und äußeren Einwirkungen sehr verschieden, aber Grundmuster und Resultat sind in den drei Fällen die gleichen. Das lässt sich aus der hervorragenden Studie von Tobias Lambert folgern.
Er hat sich darin – aus seiner linken Sicht – die Aufgabe gestellt, die Utopie des „Sozialismus des 21. Jahrhunderts“ von Hugo Chávez ohne die üblichen Vorurteile und Scheuklappen ausführlich zu beschreiben. Das heißt, ihn ernst zu nehmen und seine sozialen Leistungen für jenen Teil der Bevölkerung herauszuarbeiten, der von den meisten venezolanischen Regierungen vernachlässigt wurde. Er zeigt jedoch auch dessen Schwächen und Grenzen.
Die Vorgeschichte der Vision von Hugo Chávez
Ein großer Gewinn dieses Buches besteht darin, dass Tobias Lambert sein zentrales Thema, den „Chavismus“, in den historischen Kontext einordnet: in die häufigen Wechsel von schwachen demokratischen Regierungen; die Zweiparteien-Herrschaft von Christ- und Sozialdemokraten, die vor allem der Mittel- und Oberschicht zugute kam; die Aufstände der Menschen aus den ärmeren Vierteln, die ihr Recht an der Ölbonanza einforderten; und die Wahl von Hugo Chávez 1999 zum Präsidenten.
Dieser vereinte und kombinierte verschiedene Strömungen der venezolanischen Linken und integrierte revolutionäre, progressive und auch konservative sowie autoritäre Elemente.
Eine charismatische Führungsperson
Die divergierenden Richtungen wurden lange Zeit durch sein Charisma und die anfänglichen positiven Resultate seiner Politik zusammengehalten. Als jedoch sein Modell des „Sozialismus des 21. Jahrhunderts“ ökonomisch und politisch immer mehr unter Druck geriet, reagierte auch er mit autoritären und sogar repressiven Praktiken.
Lambert zeigt weiter, wie sehr dieses anspruchsvolle Projekt vom Schicksal der Einzelpersönlichkeit Chávez abhing und wie es nach dessen frühem Tod durch den von ihm selbst erwählten Nachfolger Nicolás Maduro zugrunde gerichtet wurde.
Die Abhängigkeit von der Entwicklung des Erdölpreises
Ein wichtiges Thema des Buches ist die völlige Abhängigkeit des Landes von der Entwicklung des Ölpreises. Sie sorgte für Reichtum und Wohlstand, aber auch für immer wiederkehrende wirtschaftliche Einbrüche. Ein erschreckendes Beispiel für die Ineffizienz staatlicher Wirtschaftspolitik führt Tobias Lambert an.
Im Mai 2010 wurde entdeckt, dass über 1.000 Container mit mehr als 130.000 Tonnen Lebensmittel im Hafen von Puerto Cabello vor sich hin rotteten. Die betroffenen Importe waren über den staatlichen Lebensmittelkonzern PDVAL mit bewilligten US-Dollar zum Präferenzpreis abgewickelt, aber niemals ins Land gebracht worden.
Die Rolle der Opposition
Ausführlich analysiert der Autor die Rolle der Opposition und ihren Kampf um die Macht. Sie wird oft in den Medien als rechtsextrem verteufelt, aber von Lambert als die konservative, allerdings auch schwache Alternative dargestellt. Sie war zwar an Putschversuchen beteiligt, ihr wurde jedoch vor allem in der Regierungszeit Maduros der demokratische Weg schwer gemacht.
Denn dieser hat allmählich die Rechtsstaatlichkeit und die Gewaltenteilung weitgehend außer Kraft gesetzt. Und so konnte er sich bei den Präsidentschaftswahlen 2024 zum Wahlsieger erklären, ohne einen Nachweis dafür vorzulegen.
Tobias Lambert entwirft eine „düstere Perspektive“: Maduro hat die chavistische Utopie durch ein diktatorisches, auf Klientilismus, Korruption und Militär gestütztes Machtsystem ersetzt, an das er sich eisern klammert, denn es ist seine einzige Option.
Wer sich heute mit Venezuela beschäftigen will, kommt an dieser vorzüglichen, erkenntnisreichen Publikation nicht vorbei.
Mehr Literatur aus und über Südamerika
Buchkritik Stefan Peters - Sozialismus des 21. Jahrhunderts in Venezuela. Aufstieg und Fall der Bolivarischen Revolution
Vor zwanzig Jahren begann in Venezuela ein tiefgreifender Prozess gesellschaftlicher Veränderung, der später 'Sozialismus des 21. Jahrhunderts' hieß. Ein Putschist, Oberstleutnant Hugo Chávez, hatte ihn auf demokratischem Weg initiiert. Zunächst sah es so aus, als ob er mit seiner sog. 'Bolivarischen Revolution' die tiefen sozialen Gräben überwinden, die Korruption beseitigen und die Profite aus dem Ölreichtum für eine nachhaltige Entwicklung verwenden würde. Doch heute ist aus dem potentiell reichsten Land Lateinamerikas das Armenhaus des Kontinents geworden.
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Buchkritik Andrés Barba – Die leuchtende Republik
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Rezension von Peter B. Schumann.
Ch. Links Verlag, 256 Seiten, 25 Euro
ISBN 978-3-96289-196-1