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Katerina Poladjan: Zukunftsmusik

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Die Zukunftsmusik, die Katerina Poladjans neuem Roman ihren Titel gegeben hat, ist zu Beginn ein Trauermarsch. Das Buch spielt an einem einzigen Tag, am 11. März 1985. Es ist der Tag nach dem Tod des sowjetischen Staatsoberhaupts Konstantin Tschernenko, der nach nur dreizehnmonatiger Amtszeit starb. Und es ist, das wird nur in einem Nebensatz, eingeleitet mit einem „übrigens“, erwähnt, ohne dass der Name fällt, der Tag, an dem Michail Gorbatschow zum Generalsekretär des ZK der KPdSU gewählt wurde. Es ist der Tag, an dem der Zusammenbruch der Sowjetunion seinen Anfang nimmt.

In einer Kommunalka, einer staatlichen Gemeinschaftswohnung in einer nicht näher bestimmten Stadt weit östlich von Moskau, leben vier Generationen von Frauen einer Familie gemeinsam mit anderen zum Teil äußerst merkwürdigen Mietern zusammen. Katerina Poladjan schöpft das absurde Potential dieser Konstruktion voll aus, inszeniert die Klischees der russischen Seele, nimmt sie aber auch ernst und steht dabei mit beiden Beinen auf den Traditionen der russischen Literaturgeschichte.

Ein Imperium bröckelt. Museen sind ebenso nutzlos geworden wie Forschungseinrichtungen. Es bedarf keiner zwanghaften Gegenwartsbezüge, um zu erkennen, dass in diesem Fall alles mit allem zu tun hat und Europa die Konsequenzen dieses schleichend einsetzenden Zerfallsprozesses spätestens seit Februar 2022 vor Augen geführt bekommt.

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Autor/in
SWR