Teilnehmer einer Israel-Demo trägt eine Kippa mit Davidsstern (Foto: dpa Bildfunk, picture alliance/dpa | Hannes P Albert)

Interview mit Historiker Jensen zum Krieg in Nahost

Kritik an Israel: Wo beginnt Antisemitismus?

Stand
INTERVIEW
Sibille Lozano

Seit dem Krieg in Nahost zeigt sich in der Öffentlichkeit ein unverhohlener Judenhass: Israelische Flaggen werden verbrannt, Synagogen beschmiert. Auch bei uns, in Rheinland-Pfalz. Aber wo fängt Antisemitismus eigentlich an? Ein Gespräch mit dem Historiker Uffa Jensen.

Uffa Jensen (Historiker am Zentrum für Antisemitismusforschung) im Interview (Foto: IMAGO, Funke Foto Services)
Uffa Jensen ist stellvertretender Leiter des Zentrums für Antisemitismusforschung in Berlin

SWR Aktuell: Herr Jensen, viele Menschen sind aktuell verunsichert, wie weit Israel-Kritik gehen darf. Wenn ich beispielsweise die Bombardements im Gazastreifen verurteile, weil Zivilisten dabei getötet werden, bin ich dann antisemitisch eingestellt?

Uffa Jensen: Die Verunsicherung ist verständlich, weil der Nahostkonflikt, die Geschichte Israels und die Geschichte des Antisemitismus komplexe Themen sind, die außerdem bei vielen mit der Nazi-Vergangenheit der eigenen Vorfahren verbunden sind und deswegen besondere Emotionen hervorrufen. Wenn eine Person militärische Aktionen, bei denen palästinensische Zivilisten zu Schaden kommen, falsch findet, ist das nicht antisemitisch. Man könnte diese Person höchstens zurückfragen, ob sie die Angriffe der Hamas gegen jüdische Zivilisten gleichfalls verurteilen würde.

Regungen von Empathie mit Unschuldigen sollten wir nicht verdächtig finden. Aber wenn man diese Empathie aufteilt und das Töten von Zivilisten bei einer Seite plötzlich rechtfertigen will, etwa weil das angeblich alles jüdische Siedler in einem fremden Land oder weil das vermeintlich alles Hamas-Terroristen seien, dann beginnt die Schieflage. Empathielosigkeit als solche ist vielleicht noch nicht antisemitisch oder rassistisch motiviert; aber die ideologischen Rechtfertigungen für die unterschiedliche Behandlung sind es oft.

SWR Aktuell: Empathie für die zivilen Opfer des Krieges treibt regelmäßig Menschen zu pro-palästinensischen Kundgebungen auf die Straße. Gleichzeitig zeigt sich gerade dort offen Judenhass. Zum Beispiel dann, wenn die Angriffe der Terrororganisation Hamas bejubelt und israelische Flaggen angezündet werden. Warum nehmen viele diesen unverhohlenen Antisemitismus in Kauf?

Jensen: Wer gegen Unrecht demonstrieren möchte, hat dazu ein verfassungsrechtliches Recht, das nur in ganz bestimmten Fällen eingeschränkt werden darf. Da es auf einer Reihe von Demonstrationen zur Unterstützung für die Hamas gekommen ist, kam es zu solchen Einschränkungen. Mit der offenen Bekundung von Freude über den Hamas-Terror ist für mich eine Grenze überschritten, und zwar zuerst die der Menschlichkeit. Da damit aber auch das Töten von israelischen Zivilisten geleugnet oder gar gerechtfertigt wurde, um die Hamas ideologisch zu unterstützen, war das oft Antisemitismus.

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Wenn man jetzt noch Juden in Deutschland auf den Demos oder anderswo bedroht, dann ist es eindeutig antisemitisch. Da muss sich dann jeder fragen, ob man da mitmarschieren möchte. Einige Linke aus der deutschen Mehrheitsgesellschaft, aber auch weltweit haben gerade den moralischen Kompass verloren. Ihren Kampf gegen die ungerechten Strukturen der Welt, verursacht durch kapitalistische Ausbeutung und die Geschichte des Kolonialismus, treibt manche von ihnen dazu, Israel als Repräsentanten dieser Übel hinzustellen. Das ist nicht zuletzt historisch falsch.

SWR Aktuell: Es gibt auf pro-palästinensischen Kundgebungen einerseits eindeutig strafrechtlich relevante Taten - aber wie ist es mit Holocaust-Vergleichen? Wenn Menschen beispielsweise die Situation in Gaza mit einem Genozid, also einem Völkermord, gleichsetzen?

Jensen: Einige Menschen, die hier schon lange leben und auf diese Demos gehen, stammen aus dem Nahen Osten und haben dort Verwandte. In Deutschland leben ja ungefähr 200.000 Palästinenser und circa genauso viele Juden. Viele arabischstämmige Personen und Migranten identifizieren sich zudem mit Palästinensern. Sie zeigen beim Nahostkonflikt dann emotionale Reaktionen wie Wut, Empörung, aber auch Angst oder Verzweiflung. Dann skandieren Menschen Dinge, die nicht in Ordnung und manchmal strafrechtlich relevant sind.

Grundsätzlich finde ich Holocaust-Vergleiche inzwischen fast immer falsch, weil sie den Holocaust verharmlosen.

Grundsätzlich finde ich Holocaust-Vergleiche inzwischen fast immer falsch, weil sie den Holocaust verharmlosen. Meistens suchen die Menschen einfach nach einer möglichst drastischen Vokabel, um rhetorisch aufzurüsten. Dann ruft man "Genozid", was den jetzigen Gaza-Krieg, so schlimm er ist, nicht richtig beschreibt. Dabei vergisst man auch gerne, dass der Angriff der Hamas vorausging. Andererseits stimmt es, dass die Angriffe der Hamas nicht ohne den Kontext der israelischen Politik gegenüber den Palästinensern verstanden werden können.

Immer wieder waren solche Aufschriften zu sehen, die Israels Aktionen mit denen der Nationalsozialisten verglichen.  (Foto: SWR)
Bei einer pro-palästinensischen Kundgebung in Trier waren am 16. Oktober Plakate zu sehen, die Israels Aktionen mit denen der Nazis verglichen.

SWR Aktuell: Was sagen Sie zu dem Vorwurf, Israel sei ein Apartheid-Staat? Die antisemitische BDS-Bewegung wirft Israel unter anderem auch eine Besetzung Palästinas vor.

Jensen: Der Vorwurf, dass Israel ein Apartheid-Staat sei, verweist erstmal auf den historischen Fall der rassistischen Ausgrenzung von Schwarzen in Südafrika. Viele Juden verstehen das so, dass Israel die palästinensischen Araber ähnlich behandeln würde, und wehren sich mit dem Hinweis, dass Araber auf dem Staatsgebiet Israels - nicht in den besetzten Gebieten - gleichberechtigt leben. Obwohl man auch über deren Status streiten kann, kommt der Vergleich mit der massiven Rassentrennung in Südafrika hier an Grenzen.

Außerdem ist "Apartheid" ein internationaler Rechtsbegriff, der die systematische Unterdrückung einer Gruppe durch eine andere bezeichnet. Verschiedene Menschenrechtsorganisationen nutzen den Begriff für Israels Umgang mit den Palästinensern, besonders in den besetzten Gebieten. Dort leben sie seit Jahrzehnten unter einem Besatzungsregime, das ihre Rechte einschränkt. Je nachdem, auf was man sich bezieht, kann der Vorwurf ungerecht sein oder eine Besatzungsrealität zu beschreiben versuchen. Ich halte das aber nicht per se für antisemitisch, obwohl das für Israelfeindschaft und Antisemitismus genutzt werden kann.

SWR Aktuell: Der Fall des Fußballers Anwar El Ghazi vom 1. FSV Mainz 05 hat bundesweit für Schlagzeilen gesorgt, weil er die Parole "From the river to the sea - Palestine will be free" gepostet hat. Kritiker sagen, er habe damit das Existenzrecht Israels geleugnet. Wie bewerten Sie diese Parole?

Jensen: Dieser Slogan ist schon länger in Gebrauch, lange wurde er nicht als antisemitisch bewertet. Seit kurzem vergrößern die Sicherheitsbehörden den strafrechtlich relevanten Bereich. Einmal möchten sie wirksamer gegen Antisemitismus vorgehen, auch gegen subtile, versteckte Formen. Andererseits konzentrieren sie sich viel stärker auf antiisraelische Slogans, die heute schneller als antisemitisch eingestuft werden.

Doch was meint die Parole? Das Land zwischen Jordan und Mittelmeer soll ein freies Palästina werden. Juden hören dann, dass dort der jüdische Staat Israel beseitigt werden soll. Andere verteidigen das: Man meine einen freien Staat für Juden und Palästinenser gemeinsam. Ich glaube aber, dass dieser Schlachtruf nur selten so benutzt wird, wahrscheinlich auch von dem Mainzer Spieler nicht.

Was sicher ist: Diese Ein-Staaten-Lösung wäre kein "jüdischer Staat", was viele Juden per se für Antisemitismus halten. Die andere Lösung wäre es, zwischen Fluss und Meer zwei Staaten zu schaffen. Das ist aber gegenwärtig unrealistisch und mit dem Slogan meint man diese Lösung eher nicht.

SWR Aktuell: Wie kann ich in der aktuellen Antisemitismus-Debatte mich und meine Einstellungen immer wieder kritisch überprüfen?

Jensen: Wissen hilft nicht immer gegen Vorurteile, sonst hätten gebildete Menschen keine. Zugleich bekommt man mit Wissen Instrumente in die Hand, sich selbst zu überprüfen. Die Antwort ist also einfach: Wir müssen uns informieren.

Wir müssen uns informieren. (...) Nur mit Wissen kann man sich selbst prüfen, wann man etwas Konkretes kritisiert und wann man in Feindseligkeit überwechselt.

Man muss die Geschichte und die verschiedenen Formen des Antisemitismus kennen. Auch reicht es nicht, sich mit der Geschichte des Nationalsozialismus und mit dem Holocaust zu beschäftigen, was trotzdem wichtig bleibt. Die Geschichte des Antisemitismus ist aber viel älter als die zwölf Jahre NS-Regime. Der Antisemitismus lebte nach 1945 in neuen Formen weiter.

Noch komplizierter: Wir müssen etwas über den Nahostkonflikt wissen; denn dieser Konflikt ist hier und heute relevant. Mancher alter Hass gegen Juden ist nun Hass gegen Israel. Nur mit Wissen kann man sich selbst prüfen, wann man etwas Konkretes kritisiert und wann man in Feindseligkeit überwechselt. Das Gute ist, dass es zu all diesen Fragen viel Material gibt: online, in Büchern, et cetera.

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