Eine junge Frau lebt in einer Einrichtung für Menschen mit Behinderung und wendet sich an eine Betreuerin. Sie ist sich unsicher, ob sie schwanger sein könnte. Was ist zu tun? Darf die Betreuerin zusammen mit der Frau einen Schwangerschaftstest machen? Muss sie die Eltern benachrichtigen? Welche Beratungsangebote kann sie der Frau vermitteln? Und: Wusste die Frau überhaupt über mögliche Verhütungsmethoden Bescheid?
Genau das sei eine klassische Situation rund um das Thema Sexualität und Partnerschaft in einer Einrichtung für Menschen mit Behinderung, erklärt Simone Benz vom Behindertenzentrum Stuttgart (BHZ). Sie ist dort für sexualpädagogische Bildungsarbeit zuständig. "Betroffene" und Betreuer seien dann häufig überfragt, weil nicht klar sei, welche Regeln gelten.
Sexualpädagogische Konzepte selten vorhanden
Im BHZ hat man sich deshalb schon lange auf den Weg gemacht und ein sexualpädagogisches Konzept entwickelt. Es ist eine Art Handlungsleitfaden und Regelkatalog für die Themen Sexualität, Liebe und Partnerschaft - für Menschen mit Behinderung und deren Betreuerinnen und Betreuer.
Doch mit so einem Konzept ist das BHZ eine von ganz wenigen Einrichtungen. "In den meisten Einrichtungen der Behindertenhilfe in Baden-Württemberg kommen die Themen Sexualität und Partnerschaft erst dann zur Sprache, wenn es zu 'unerwünschtem Verhalten' kommt", erklärt Gudrun Christ von Pro Familia Baden-Württemberg. Also etwa Fälle von Gewalt, von körperlichen und verbalen Übergriffen.
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Projekt soll für mehr Aufklärung sorgen
Mit einem Projekt wollen Pro Familia und die Lebenshilfe das ändern. Gefördert wird es von der Landesregierung mit 300.000 Euro für zwei Jahre. Dabei erarbeiten Mitarbeitende von Behinderteneinrichtungen zusammen mit Menschen mit Behinderung und deren Angehörigen Ideen und Leitfäden, die dann im ganzen Land angewendet werden können.
Auch Christian Sulzberger ist beteiligt. Dem 38 Jahre alten Mann mit Behinderung ist vor allem wichtig, dass es für Männer und Frauen gleichermaßen Angebote und Ansprechstellen in Einrichtungen der Behindertenhilfe gibt. Er setzt sich momentan für einen Männerbeauftragten oder eine -beauftragte ein.
Ziel: Mehr Angebote und klare Handlungsleitfäden
Gudrun Christ von Pro Familia betont: "Wir sprechen über ganz grundlegende menschliche Bedürfnisse, die aber bisher oder über lange Zeit nicht so auf dem Schirm waren. Und wir sprechen natürlich auch über Rechte, die Menschen haben." Deshalb sei es wichtig, dass es Angebote gibt und dass in Einrichtungen der Behindertenhilfe klar ist: Wie gehen wir damit um?
Konkret heißt das, Vorgehensweisen festzulegen für bestimmte Situationen wie etwa Schwangerschaften. Auch Angebote zur Aufklärung und Verhütung gehörten dazu. Manche Klientinnen und Klienten wüssten gar nicht, wie ihr Geschlechtsteil funktioniert oder welches Geschlecht sie haben.
Welche Regeln gelten für die Privatsphäre von Bewohnerinnen und Bewohnern von Behinderteneinrichtungen? Wer darf übernachten? Und müssen Betreuende eigentlich immer anklopfen, bevor sie das Zimmer betreten? Die Nachfrage nach entsprechenden Beratungsangeboten sei groß, heißt es von Pro Familia.
Hauptanliegen für Menschen mit Behinderung: selbstbestimmte Sexualität
Sexualpädagogische Konzepte in Einrichtungen der Behindertenhilfe gehörten leider oft noch nicht zum Standard. Dabei helfen sie bei offenen Fragen, dienen der Prävention und geben auch Fachkräften ein Stück weit Handlungssicherheit.
Besonders wichtig sei aber auch, Menschen mit Behinderung ein möglichst selbstbestimmtes Liebesleben zu ermöglichen. Christian Sulzberger sagt: "Es ist nicht einfach, jemanden kennenzulernen" - und damit ist er nicht alleine. "Viele der Menschen mit Behinderung haben den Wunsch nach Nähe und Beziehung", sagt Gudrun Christ von Pro Familia. Oft wüssten sie aber nicht, wie sie eigentlich einen Partner oder eine Partnerin finden sollen.
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Pro Familia: Der Wunsch nach Partnerschaft ist groß
Das zeigt auch eine Umfrage, die Pro Familia und die Lebenshilfe im Rahmen eines Vorgänger-Projekts durchgeführt haben. Von 484 Befragten mit Behinderung gab der Großteil an, Schwierigkeiten bei der Partnersuche zu haben und sich mehr Unterstützung zu wünschen. Ein Drittel habe einen Kinderwunsch.
Der Aufklärungs- und Schulungsbedarf ist hoch, auch Betreuerinnen und Betreuer haben Probleme, wie aus der Umfrage hervorgeht. Von 326 befragten Fachkräften wünschten sich mehr als die Hälfte Fortbildungen und Unterstützung, um ein sexualpädagogisches Konzept für ihre jeweilige Einrichtung zu entwickeln.
Arbeit rund um Sexualität müsse weitergehen
Im Sommer soll das aktuell laufende Projekt abgeschlossen werden. Dann können Einrichtungen auf das erarbeitete Material zugreifen und die für sich nützlichen Inhalte übernehmen.
Doch es müsse weitergehen, fordert Gudrun Christ von Pro Familia. Zu oft scheiterten sexualpädagogische Konzepte an fehlenden Ressourcen, sowohl personell als auch finanziell. "Das Thema sexuelle Bildung ist als Auftrag auch nicht im Landesaktionsplan Menschen mit Behinderung verankert". Wenn es nach Christ geht, soll sich das ändern.