Vier Jahre nach harten Lockdowns

"Angst, was falsch zu machen": Ex-Kultusministerin blickt zurück auf Corona-Politik

Stand
Autor/in
Henning Otte
SWR-Reporter und -Redakteur Henning Otte, SWR Landespolitik
Interview
Christian Susanka
Onlinefassung
Jana Mack

Susanne Eisenmann wollte Schulen und Kitas schnell aus dem Corona-Lockdown holen - und verlor so die Landtagswahl. Im Interview blickt die Ex-Kultusministerin und CDU-Spitzenkandidatin nach vier Jahren zurück.

Drei Jahre lang hat sie kein Fernsehinterview mehr gegeben: Susanne Eisenmann, ehemalige CDU-Spitzenkandidatin und Kultusministerin. Noch am Abend der Landtagswahl am 14. März 2021 übernahm sie allein die Verantwortung für die Schlappe der CDU und zog sich aus der Politik zurück. Doch jedes Mal, wenn sich der Beginn der Corona-Krise und der Schulschließungen jährt, kommt die Ex-Bildungsministerin ins Grübeln. Wir treffen die 59-Jährige zum Gespräch an einem Stuttgarter Gymnasium und wollen von ihr wissen, wie sie die Zeit damals erlebt hat und was wir alle aus der Krise lernen können.

Im zweiten Corona-Winter profilierte sich Eisenmann als Kämpferin für die Öffnung von Schulen und Kitas. Die Republik schaute gebannt auf steigende Inzidenzen, Neuinfektionen und die Zahl von Intensiv-Patientinnen und -Patienten. Eisenmann dagegen legte sich wenige Monate vor der Landtagswahl sogar mit der damaligen Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) an. "Unabhängig von den Inzidenzzahlen" wollte sie Grundschulen und Kitas nach den Weihnachtsferien stufenweise wieder öffnen. Es hagelte Kritik.

SWR Aktuell: Wie kamen Sie eigentlich dazu, das zu fordern?

Susanne Eisenmann: Man hat damals zu wenig darauf reagiert, welche Erkenntnisse es inzwischen gab. Das war der Zeitpunkt, wo für mich als Kultusministerin die Meinung von Kinderärzten, Psychologen und Virologen zählte, die sagten: 'Vorsicht, ihr könnt nicht alles auf dem Rücken der Kinder austragen. Schaut euch an, wie viel sie zum Infektionsgeschehen tatsächlich beitragen. Schaut vor allem an, was es psychisch mit ihnen macht.' Das war der Punkt für mich zu sagen: Wir müssen differenziert vorgehen. Wir können nicht pauschal sagen: Kinder und Jugendliche einfach mal daheim bleiben und nach uns die Sintflut. Das war nicht gut. Es gab dann einen Riesen-Shitstorm. Mir wurde vorgehalten: Sie sind verantwortlich für Hunderttausende von Toten. Das war nicht mehr sachlich, das war hysterisch.

SWR Aktuell: Hatten Sie keine Angst, dass Sie falsch liegen?

Eisenmann: Natürlich haben Sie als Politikerin auch Angst. Sie haben Angst, was falsch zu machen. Bin ich mir sicher? Habe ich genügend Expertinnen und Experten aus allen Bereichen gehört? Und natürlich treibt Sie das um, weil es ja nicht darum geht, ob Ihnen ein Essen verbrennt, wo Sie sagen: 'Ach wie ärgerlich, aber jetzt ist es halt so.' Sondern da ging es um was wirklich Großes, was die Menschen betroffen hat und was zu Krankheit und Tod führen konnte.

Damals hielten Eisenmann alle aus dem "Team Vorsicht" Fahrlässigkeit vor - und dieses Team war übermächtig, vor allem in den Sozialen Medien, aber auch im Fernsehen und in den Zeitungen. Zum "Team Vorsicht" gehörte neben Merkel auch Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne), der heutige Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) und die Expertinnen und Experten des Robert Koch-Instituts sowie der Virologe und Regierungsberater Christian Drosten.   

SWR Aktuell: Wie sehr hat Sie der Vorwurf der Fahrlässigkeit getroffen?

Eisenmann: Die Unterstellung, wer nicht "Team Vorsicht" ist, ist "Team Hasardeur", ist "Team Unverantwortlich", auch das wurde ja überhaupt nie mehr differenziert. Es war ein hoher medialer Druck. Es war im Netz ein großer Druck derer, die sich immer geäußert haben und am besten alles dicht machen wollten. Wir müssen uns auch fragen, ob die, die besonders laut waren, nur besonders gut organisiert waren. Ob es die Mehrheit war, da habe ich zunehmend meine Zweifel. Viele hätten sich - glaube ich - ein differenzierteres Vorgehen vorstellen können.

Aufarbeitung der Corona-Maßnahmen Schulschließungen – Das haben wir aus der Pandemie gelernt

Teil der Corona-Maßnahmen zur Eindämmung der Infektionen war vor vier Jahren die Schließung der Schulen. Wie sehr Kinder und Jugendliche unter Homeschooling und der sozialen Isolation während der Pandemie gelitten haben, wurde erst danach richtig deutlich.

Nach der Corona-Krise hört sich das beim damaligen "Team Vorsicht" anders an, auch bei Ministerpräsident Kretschmann: "Nicht alles, was wir beschlossen haben, hat sich im Rückblick als richtig herausgestellt", sagt der Grüne mittlerweile. So habe man - und auch er persönlich - die Auswirkungen von Schulschließungen auf Kinder und Jugendliche unterschätzt. Bei Lauterbach klingt das ähnlich. Eisenmann betont, dass sie mit Kretschmann immer konstruktiv zusammengearbeitet habe.

SWR Aktuell: Aber wie beurteilen Sie diese nachträglichen Bekenntnisse?

Eisenmann: Ich bin heute überrascht, wenn ich lese oder in Interviews sehe, wer da jetzt alles überrascht war, dass das mit Kindern und Jugendlichen übertrieben war und die Schulschließungen nicht ganz so richtig. Manche von denen, die da jetzt Interviews geben, die wussten es auch schon vorher. Da hat es damals auch an Mut gefehlt.

Aufregen könne sich Eisenmann, wenn sie daran denke, mit welcher Leichtigkeit auch führende Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler Schulen noch im zweiten Corona-Winter schließen wollten. Noch mehr fuchse sie, wie wenig Forscherinnen und Forscher offensichtlich zur Selbstkritik fähig seien.

Eisenmann sitzt an einem Tisch in einem leeren Klassenzimmer.
Vier Jahre nach den harten Lockdowns mit Schul-, Uni- und Kita-Schließungen blickt die damalige Kultusministerin von Baden-Württemberg und CDU-Spitzenkandidatin bei der Landtagswahl 2021 zurück.

SWR Aktuell: Sie haben sich seinerzeit sogar mit der Akademie der Wissenschaften, der Leopoldina, angelegt…

Eisenmann: Ich kann mich gut an die Zeit und die Schlagzeile erinnern: 'Eisenmann kritisiert die Leopoldina'. Unvorstellbar. Das geht gar nicht. Dass man innerhalb einer Demokratie ein Institut, eine Einrichtung kritisiert. Ich glaube, dass es das Wesen der Demokratie und des inhaltlichen Diskurses ist, zu sagen: 'Entschuldigung, ich sehe das anders.' Höflich, aber deutlich. Die Leopoldina war diejenige, die gesagt hat, vor dem zweiten Lockdown, die Einkaufzentren - Stichwort Einzelhandel an Weihnachten - kann man schon offen lassen, aber die Schulen müssen wir alle schließen. Und wir müssen endlich die Schulpflicht aufheben.

Das war an Peinlichkeit nicht mehr zu überbieten. Die Schulpflicht konnten wir gar nicht aufheben, dann hätte es nicht mal mehr Online-Unterricht geben können. Was sie meinte, war die Präsenzpflicht, aber die war eh aufgehoben, die gab es gar nicht, in keinem einzigen Bundesland. Das war einfach nur peinlich. Aber anstatt zu sagen, wir haben da was durcheinander gebracht und korrigiert, hat man drauf beharrt. Allein die Situation, dass man das nicht mehr sagen darf, war zu dem Zeitpunkt eine Situation, wo ich gedacht habe: Ganz normal ist das jetzt nicht mehr.

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Die Gesellschaft sei seit Corona noch mehr gespalten und bleibe das auch weiterhin angesichts schwieriger Themen wie dem Krieg gegen die Ukraine. Der Riss sei jedoch nicht in der Mitte. Es gebe vielmehr eine laute Minderheit, die sich sehr gut Gehör verschaffe und vieles skandalisiere, was nicht ihre Meinung sei. Und es gebe eine leise Mehrheit, die schweige, weil sie Sorge habe, in den Sozialen Medien verurteilt zu werden.

Es gibt nicht nur eine laute Meinung und die ist dann automatisch richtig. Sondern wir müssen auch auf die leiseren Töne hören.

SWR Aktuell: Was kann man gegen so eine Spaltung tun?

Eisenmann: Eigentlich wäre es die gemeinsame Aufgabe von Politik und den Parteien, von den Medien, von der Wissenschaft, von allen Partnern, die gestalterisch tätig sind, eigentlich von jedem einzelnen zu sagen: 'Nein, wir gehen differenzierter vor.' Es gibt nicht nur eine laute Meinung und die ist dann automatisch richtig. Sondern wir müssen auch auf die leiseren Töne hören. Und dieser Aspekt geht immer mehr verloren. Und das ist, glaube ich, etwas, was die Gesellschaft auseinander treibt.

Mit großem Interesse verfolge Eisenmann die aktuelle politische Entwicklung, wolle aber nicht von der Seitenlinie Ratschläge geben. Doch was sie von der geplanten Wiedereinführung des neunjährigen Gymnasiums in Baden-Württemberg hält, wird schnell deutlich. Denn auch hier war eine kleinere, lautstarke Gruppe - in diesem Fall eine Elterninitiative - mit ihrer Forderung erfolgreich.

SWR Aktuell: Was halten Sie denn von der Rückkehr des G9?

Eisenmann: Die Frage ist: Ist es eine Entscheidung, die allen Schülerinnen und Schülern nützt? Nützt sie dem Bildungssystem? Wo sind Handlungsbedarfe, wo sind Themenfelder, auf denen wir besonders zügig und intensiv agieren müssen? Ist diese Abwägung erfolgt? Dann kann ich sagen, es betrifft alle Eltern, alle Schülerinnen und Schüler. Oder ist eine Reaktion auf eine kleine Gruppe, gut organisiert, sehr präsent, wo dann Politik sich sagt: 'Huch, nur kein Ärger, möglichst nicht dieses Thema im Landtagswahlkampf diskutieren.'

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Und dann wäre da noch ihr Verhältnis zur Landes-CDU - oder besser gesagt ihr Nicht-Verhältnis zu Innenminister Thomas Strobl und dem CDU-Partei- und Fraktionschef Manuel Hagel. Eisenmann wiederholt nochmal, dass es richtig gewesen sei, die Verantwortung zu übernehmen. Doch die Wahlniederlage sei nicht der Grund für ihren Rückzug aus der Politik gewesen.

SWR Aktuell: Warum haben Sie nicht einfach weitergemacht?

Eisenmann: Es war eine Frage des Umgangs, das war der entscheidende Punkt. Wie geht man damit um, wie findet die Aufarbeitung eines solchen Ergebnisses statt? Es war ja eine Folge von vielen Wahlergebnissen, es war nur eine Entwicklung, die weiter nach unten gegangen ist. Es war ein schlechtes Wahlergebnis, da gibt es gar keine Diskussion. Für mich war klar, dafür übernehme ich die Verantwortung.

Es war ein schlechtes Wahlergebnis, da gibt es gar keine Diskussion. Für mich war klar, dafür übernehme ich die Verantwortung.

Das ist auch etwas, was ich mir in der Politik wünsche: 'Jawohl, dafür übernehme ich die Verantwortung und mache nicht morgen weiter wie bisher.' Wenn ich geholfen habe durch meinen Rücktritt, dass sich andere frei von jeglicher Verantwortung fühlen können, dann gönne ich das der CDU als meiner Partei. Ob das für die Zukunft weiterführt, für künftige Wahlkämpfe und für Zeiten, die immer schwieriger werden, müssen andere entscheiden.

Eisenmann spricht die Namen des früheren CDU-Landeschefs Strobl und des ehemaligen Generalsekretärs und Wahlkampfmanagers Hagel nicht aus. Ihrem früheren Generalsekretär nimmt sie offensichtlich übel, dass er sich schon vor der Wahl von ihr distanziert hat - und warnt ihre Partei davor, sich von den momentan guten Umfragewerten blenden zu lassen.

SWR Aktuell: Fühlten Sie sich von der CDU-Spitze allein gelassen?  

Eisenmann: Ich habe schon wahrgenommen, wie sich da einzelne verabschieden, die sich vorher nicht wichtig genug in Funktionen drängen konnten. So ist das Leben, so ist der Mensch. Hauptsache, ich komme an mein rettendes Ufer oder in meinen rettenden Dienstwagen. Einzelne Personen müssen glücklich werden mit dem, was sie jetzt an Verantwortung haben und sich fragen, ob sie wirklich die CDU in die Zukunft führen - als CDU in der Wahrnehmung als moderne, konservative Partei und nicht nur als Antwort auf schlechte Politik der Ampel in Berlin. Die Frage ist, was ist wirklich Eigenleistung und was ist tatsächlich nur Reaktion auf das, was wahrlich in Berlin auf allen Ebenen schiefläuft.

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