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Susan Neiman – Links ist nicht woke

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Günter Kaindlstorfer

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Die Philosophin Susan Neimann kritisiert den Trend zur Wokeness. Sie hält den belehrungsfreudigen Puritanismus einer sich moralisch überlegen fühlenden Elite für politisch gefährlich.

Class, Race und Gender – das ist die heilige Dreifaltigkeit der Wokeness-Bewegung, die sich in vielem, diese These sei riskiert, als kryptoreligiöse Erweckungsbewegung präsentiert. Die Anhänger und Anhängerinnen dieser Bewegung treiben Fragen um, die man auf den ersten Blick für absonderlich halten könnte: Haben Weiße das Recht, sich für die Rechte Schwarzer einzusetzen? Darf man Reggae spielen, ohne jamaikanische Wurzeln zu haben? Und muss man die Bibliotheken von den Schriften Immanuel Kants säubern, weil der Philosoph in seinem Frühwerk rassistische Äußerungen getätigt hat, von deren Überwindung dann allerdings sein Spätwerk kündet?

Susan Neiman ärgern solche Debatten. Wokeness, so ihre These, geriere sich als links, sei es aber nicht.

Wokeness: Reduktion auf Ausgegrenztsein?

„Kann man woke definieren? Es beginnt bei der Sorge um ausgegrenzte Menschen und endet bei ihrer bloßen Reduktion auf das Ausgegrenztsein.“

Es ist immer gut, zu wissen, von welchem Standpunkt aus jemand seine Argumente vorträgt. Susan Neiman betrachtet sich als Sozialistin, wenn auch nicht notwendig im marxistischen Sinn:

Susan Neiman: „But I'm very happy to call myself a socialist. There's a proud socialist tradition that's not necessarily communist or Marxist, but that's where I situate myself.”

Alter Universalismus weicht neuem Stammesdenken

Was genau bringt Susan Neimann nun gegen die Wokeness vor? Erstens: Sie opfere den Universalismus der traditionellen Linken – dass jeder Mensch gleich viel wert sei und gleiche Rechte habe – einem neuen Tribalismus, also Stammesdenken. Da sei nicht so sehr von Bedeutung, WAS gesagt werde, sondern WER etwas sage.

Zweitens: Die Woken hätten die Unterscheidung zwischen „Macht“ und „Gerechtigkeit „aufgegeben. Und drittens: Linke hielten den Gedanken des Fortschritts hoch, weil er den Menschen Hoffnung gebe und sie handlungsfähig mache, während sich Woke – wie Rechte, behauptet Neiman – vom Glauben an die Möglichkeit des Fortschritts verabschiedet hätten.

Als einen der maßgeblichen intellektuellen Stichwortgeber der radikalen Political Correctness von heute hat die US-amerikanische Philosophin Michel Foucault ausgemacht. Foucault, so Neiman, würde fälschlicherweise als Linker gesehen, dabei sei sein Linkssein letztlich nur Pose gewesen. Foucaults Machttheorie – der zufolge man auch den Kampf um Demokratie und Entkolonialisierung nur als eine etwas raffiniertere Maske der Macht sehen müsse – sei irrationalistisch und gegen die Werte der Aufklärung gerichtet:

„Der späte Foucault sah Macht in allen Aspekten des modernen Lebens am Werk ... Aber das Beharren darauf, dass Macht die einzige Triebkraft ist, geht Hand in Hand mit der Verachtung der Vernunft.“

 Mutiges Statement gegen die Cancel Culture

Susan Neiman ist intensiv verrissen worden für ihre Kampfschrift. Über einzelne Aspekte ihrer Argumentation kann man sicher diskutieren, etwa über die Frage, ob man Foucault oder den von Neiman genannten Carl Schmitt wirklich als Vordenker der Wokeness sehen kann und darf, aber Neimans Mut, sich dem belehrungsfreudigen Puritanismus der Cancel Culture entgegenzustellen, verdient Respekt.

Und eines sollte man auch nicht vergessen: Die sozialistische Linke, der sich Neiman verpflichtet fühlt, hat stets den Primat der materiellen Basis vor dem intellektuellen Überbau betont. Und das hat immer noch etwas für sich. Denn es waren selten Sprachtabus und moralinsaure Auseinandersetzungen um die Frage, wer wann wo und in wessen Namen sprechen dürfe und wer nicht, die das Leben der Menschen, vor allem auch der Benachteiligten, verbessert haben; es waren in der Regel harte und zähe politische und gewerkschaftliche Kämpfe.

Dass man dabei korrekt gendert, ist sicher auch wichtig. Aber korrekt gendern, das tun heute da und dort auch schon die Vorstandsvorsitzenden börsennotierter Ausbeuterkonzerne.

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„Ich bin pro Gerechtigkeit und pro Menschrechte“, sagt Susan Neiman, Philosophin und Leiterin des Einstein-Forums in Potsdam. Sie ist eine von über 100 jüdischen Intellektuellen in Deutschland, die sich am Wochenende in einem offenen Brief in der Tageszeitung „taz“ für Frieden und Meinungsfreiheit ausgesprochen haben, auch für pro-palästinensische Stimmen.
Solidaritätsbekundungen sind kein „Fußballspiel“
„Pro-palästinensisch“ und „pro-israelisch“ „sind absurde Ausdrücke, die ich immer verabscheut habe“, sagt Susan Neiman, „so als ob es um ein Fußballspiel gehen würde“. Im offenen Brief solidarisieren die Unterzeichnenden mit ihren arabischen, muslimischen und insbesondere palästinensischen Nachbarn. „Ich kann mich mit ihnen solidarisieren“, sagt Neiman, „weil die Mehrheit nicht hinter Hamas steht“. Das Ziel dieser Terrororganisation sei nicht nur die Vernichtung von Israel, sondern auch die Auslöschung von all den Werten, “die mir wichtig sind und auch den muslimischen Freunden wichtig sind“.
„Juden werden dadurch nicht sicherer“
Propalästinensische Demonstrationen wurden vielerorts zeitgleich kritisiert und verboten, beklagt auch der offene Brief. Aber durch das Verbot „werden Juden nicht sicherer“, meint die Philosophin. Viele Zeitungen in Israel üben scharfe Kritiken an die Regierung von Benjamin Netanjahu, sagt Neiman, „diese Kritiken lese ich nicht in den deutschen Medien“.

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Prof. Dr. Susan Neiman, Direktorin Einstein Forum, Potsdam
Prof. Dr. Julian Nida-Rümelin, Gründungsrektor Humanistische Hochschule, Berlin
Prof. Dr. Bernd Stegemann, Kultursoziologe an der Hochschule für Schauspielkunst Ernst Busch, Berlin

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