Buchkritik

Olga Grjasnowa – Juli, August, September

Stand
Autor/in
Jürgen Deppe

Wer bin ich eigentlich und wo liegen meine Wurzeln? Das fragt sich die Protagonistin Lou in Olga Grjasnowas Geschichte einer modernen jüdischen Familie, die von der Vergangenheit noch immer eingeholt wird.

Am Ende dieses Sommers bleiben viele Fragen offen, eigentlich fast alle! Auch nach über 200 Seiten persönlicher wie kollektiver Sinnsuche im Juli, August, September 2023. Wer bin ich eigentlich wirklich: Ludmila, Ljuda, Lou?

Sergej war derjenige, der Ljuda, meinen Kosenamen, zu Lou abkürzte, was mir gefiel, denn so hatte er nichts mit mir zu tun und gab mir eine neue Identität.

Jüdische Heldin mit autobiographischen Zügen der Autorin

Eine neue Identität? Aber welche? Ob Ludmila, Ljuda, Lou, fest steht, sie ist liiert mit dem Konzertpianisten Sergej, ist Galeristin in Berlin, in ihren Dreißigern, Mutter der 5-jährigen Rosa. Ludmila, Ljuda, Lou ist Jüdin und vor vielen Jahren als sogenannter „Kontingentflüchtling“ aus Aserbaidschan nach Deutschland gekommen –  ihrer Schöpferin Olga Grjasnowa damit sehr ähnlich.

Der Roman hat natürlich autobiographische Züge. Und es ist auch etwas, womit der Roman spielt. Es ist nicht wirklich meine Autobiographie, aber es sind sehr viele Dinge, die ich mit Lou gemeinsam habe. Es ist zum Beispiel unser beidseitiges Unverständnis der klassischen Musik, es sind bestimmte biographische Anhaltspunkte. Und ich glaube, im Prinzip ist es einfach so, dass ich den Roman so geschrieben habe, dass ich mir überlegt habe, wie mein Leben unter Umständen auch hätte verlaufen können.

Im Juli, zu Beginn des Romans, stellt sich Lou und Sergej, dem wohlsituierten Künstlerpaar aus Berlin, immer drängender die Frage, wie jüdisch sie eigentlich seien und ihre kleine Tochter erziehen wollen – als nachgeborene, nicht wirklich religiöse Juden im Land der Täter. Jüdisch sein? Hier? Heute?

Tatsächlich hat für mich angefangen, mein Jüdischsein eine größere Rolle zu spielen, als ich selbst Mutter war, weil sich dann die Frage gestellt hat: Was gebe ich weiter? Wie erziehe ich meine Kinder? Und vor allem bin ich nicht wirklich religiös. Das heißt, mein Judentum hat per se etwas von einer kulturellen Performance und nicht etwas von einer Religion. Die Kultur spielt eine sehr große Rolle, aber nicht die Religion. Und wenn das dann so ist, was mache ich dann mit meinen Kindern? Gebe ich ihnen bestimmte Teile der Kultur mit? Kann man überhaupt sagen, was eine jüdische Kultur ist? Was ist denn dann das Spezifische, was ich weitergeben möchte?

Eine Familie zwischen Erinnern, Lügen und Schweigen

Lou stürzen diese Fragen in keine große Identitätskrise. Dazu ist sie viel zu selbstbewusst, viel zu sehr mit sich, ihrem Kind, ihrer Beziehung beschäftigt. Sie stellen sich ihr halt nur, diese Fragen, erst recht, als sie – wir schreiben mittlerweile den Monat August – mitsamt der in alle Welt verstreuten Mischpoke zum 90. Geburtstag ihrer Tante Maya nach Gran Canaria eingeladen wird.

Und da sind sie dann, die ganzen noch lebenden Onkel und Tanten, Cousins und Cousinen, deren Söhne und Töchter – und es wird so skurril wie Familienfeiern nun einmal skurril sind

Ich glaube nicht, dass es bei jüdischen Familien etwas anderes ist, sondern ich glaube, dass tatsächlich Lügen zum Familienalltag mitunter gehören. Vielleicht auch noch nicht einmal Lügen, sondern in jeder Familie gibt es bestimmte Geschichten, die man im Laufe des Lebens unterschiedlich erzählt. Man fängt an, dass man manche Geschichten zum Beispiel für die Kinder runterbricht, sie einfacher gestaltet, das Traumatische daran wegnimmt oder auslässt. Und irgendwann hat sich dieses Narrativ verfestigt, und nach und nach fangen die Leute an, mehr zu erzählen, oder sie lassen es einfach. Und die Erinnerung ist auch nicht immer gleich. Man erinnert sich mal besser, mal weniger besser, mal erscheinen andere Sachen in der Erinnerung wichtiger zu sein, Manchmal sind es Lügen, manchmal sind es auch einfach nur Auslassungen, manchmal ist es das Schweigen und all das macht eine Familie eben auch aus.

In Lous Familie ist es – wie bei so vielen jüdischen Familien – die Frage danach, welche Katastrophe der Holocaust unter ihnen angerichtet hat und welche traumatischen Folgen er bis heute hinterlässt. Für Lou ist auf Gran Canaria die Chance gekommen, die Geschichten, die ihre Tante Maya darüber verbreitet, mit denen der Mutter abzugleichen.

In meiner Kindheit war der Holocaust allgegenwärtig gewesen, an ihn wurde überall von Nachbarn oder Freunden erinnert. Maya war die letzte Zeugin, und sie veränderte die Geschichte vom Überleben nach ihren Bedürfnissen. Sie stellte sich selbst in den Mittelpunkt, was ihr gutes Recht war, nur hätte das nicht auf Kosten von Rosa geschehen müssen. Sie manipulierte die Erinnerung und war doch zugleich die Einzige, die sich überhaupt noch erinnern konnte. Darum galt nun Mayas Wort, und ich hatte das Bedürfnis, dem etwas entgegenzusetzen.

Eine Geschichte, die sich im Kreis dreht

Für Lou rücken sich am Rande der Familienfeier einige Verdrehungen, Verzerrungen, Verstümmelungen ihrer Familiengeschichte zurecht. Doch statt danach schnurstracks in ihren Alltag, in ihr altes Leben nach Berlin zurückzukehren, fliegt sie außerplanmäßig nach Israel. Etwa auf der Suche nach weiteren Antworten auf die Frage nach ihrer Zugehörigkeit, ihrer Verwurzelung? Das wäre plausibel und folgerichtig. Doch so zwingend scheint es dann doch nicht zu sein.

Lou verbringt in Israel ja eigentlich nur ein paar Tage. Sie versucht einfach nur, kurz auszureißen und sich noch ein bisschen mehr Zeit zu verschaffen. In Berlin erwarten sie nicht die schönsten Sachen, sondern ziemlich viele Probleme. Ich glaube, sie sehnt sich einfach nur danach, noch einmal auf die Pausentaste zu drücken und sich eine ganz winzige Auszeit zu verschaffen. Aber natürlich kann sie sich das nicht selber eingestehen, sie tut es vielleicht sogar an der ein oder anderen Stelle, sondern sie flieht einfach nur und möchte etwas Zeit rausschinden.

Und so kehren Lou aus Spanien bzw. Israel und Sergej von einer Konzertreise mit einem potenziellen Seitensprung fast gleichzeitig nach Berlin zurück. Ende Juli aufgebrochen haben sie sich drei Monaten lang um sich selbst und im Kreis gedreht, ohne irgendwie weitergekommen zu sein. Entwicklung ist nicht erkennbar.

Olga Grjasnowas neuer Roman ist zwar so souverän und temporeich wie dessen Vorgänger, aber leider deutlich weniger erkenntnisreich. Wenig, was man über heutiges jüdisches Selbstbewusstsein oder eben auch jüdische Selbstzweifel nicht längst gewusst hätte. Wenig, was man als originelle Wendung oder Einsicht verbuchen könnte. Lous Identitätssuche bringt leider nicht weiter. Sie nicht. Und uns nicht. Schade.

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