Nach Jahren literarischer Essays und persönlicher Texte kehrt Chimamanda Ngozi Adichie mit „Dream Count“ endlich zum Roman zurück – und erzählt die bewegenden Geschichten von vier afrikanischen Frauen zwischen den USA und Nigeria.
Vier Frauen, vier Lebenswege, vier Sehnsüchte: In „Dream Count“, dem neuen Roman von Chimamanda Ngozi Adichie, dreht sich alles um den Wunsch nach Liebe, Zugehörigkeit und Selbstbestimmung. Drei der Frauen sind in Afrika aufgewachsen und leben inzwischen in den USA, eine ist in Nigeria geblieben.
Unterschiedlich in Herkunft, Status und Lebenssituation, eint sie doch die Suche nach Erfüllung – schon der erste Satz des Romans steckt das zentrale Thema ab:
Ich habe mich immer danach gesehnt, von einem anderen Menschen erkannt zu werden, wirklich erkannt.
Wunsch nach Liebe, Zugehörigkeit und Selbstbestimmung
Das sagt Chiamaka, genannt Chia, die erste der vier Protagonistinnen. Chia stammt aus einer wohlhabenden nigerianischen Familie und lebt als Reiseschriftstellerin in den USA – jedoch bislang ohne größeren Erfolg. Die Pandemie zwingt sie zur Untätigkeit, und in dieser Zeit beginnt sie, über vergangene Beziehungen zu sinnieren.
Sie sucht im Netz nach ihrem Ex-Partnern: Darnell, schön, aber gefühlskalt; ein verheirateter Engländer, dessen Geliebte sie lange war, und Chuka, der perfekte Mann – den Chia trotzdem nicht lieben konnte. Von Chia aus verzweigt sich die Geschichte zu den anderen Frauen.
Zikora, ihre beste Freundin, hat in Washington Karriere als Anwältin gemacht. Jahrelang hat sie sich ein Kind gewünscht – jetzt ist sie schwanger, doch der vermeintliche Traummann verlässt sie, als er von der Schwangerschaft erfährt.
Er konnte das, einfach ungeschoren davonkommen, sich entscheiden, nichts zu tun, aber sie würde diese Option nie haben, denn es war ihr Körper, und ein Baby musste entweder zur Welt gebracht werden oder nicht.
Schwere Schicksale und Einblicke in afrikanische Lebenswelten
Kadiatou, Chias Haushälterin, stammt aus Guinea, lebt als Geflüchtete in den USA und träumt von einem ruhigen, sicheren Leben. Doch dieser Traum zerbricht brutal, als sie Opfer eines sexuellen Übergriffs wird – ein Fall, der an den Skandal um Dominique Strauss-Kahn erinnert, aber gleichzeitig ein universelles Schicksal von Frauen weltweit repräsentiert.
Die vierte Hauptfigur ist Omelogor, Chias Cousine, erfolgreiche Bankerin in Abuja in Nigeria, unverheiratet und kinderlos aus Überzeugung – bis plötzlich der Wunsch nach Mutterschaft in ihr aufkeimt. Adichie verwebt die Geschichten dieser Frauen mit scheinbarer Leichtigkeit, ohne die Schwere der Themen zu verharmlosen.
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Adichie scheut nicht vor Reibung zurück
Fehlgeburten, Abtreibungen, häusliche Gewalt, Genitalverstümmelung – all das findet Raum in diesem Roman, ohne dass er sich in Anklagen verliert. Ganz nebenbei vermittelt sie Einblicke in afrikanische Lebenswelten – ohne lange Erklärungen, aber mit selbstverständlicher Präzision.
Wer nicht weiß, was Fonio ist, wird die in Westafrika beliebte Hirseart vielleicht nachschlagen, und dabei einen weiteren kleinen Baustein in Adichies literarischem Kosmos entdecken. Adichie scheut nicht vor Reibung zurück: Sie legt ihren Figuren auch kontroverse Aussagen in den Mund, die Debatten anstoßen – mal entlarvend, mal provokant.
Jemand las einen Roman über den Biafra-Krieg in Nigeria und meinte: „Echt interessant, aber ehrlich gesagt kapier ich noch nicht ganz, wieso die Igbo ermordet wurden“. Ich riet ihnen, sich die Igbo als sowas wie die Juden Nigerias vorzustellen: Man traut ihnen nicht, weil sie angeblich alles kontrollieren wollen, Geld lieben und dauernd Ansprüche anmelden. „O mein Gott“, rief da eine Frau, „das darfst du nicht sagen, niemanden darf man mit Juden vergleichen!“ Ich hatte keine Ahnung, dass es Menschen gibt auf dieser Welt, die so selbstverständlich das Hoheitsrecht über anderer Leute Köpfe beanspruchen.
„Dream Count“ ist ein kraftvoller Roman über Frauen, die lieben, kämpfen und sich behaupten – nicht perfekt, nicht immer heldenhaft, aber mit einer Beharrlichkeit, die bewegt. Adichie gelingt es komplexe Themen in lebendige Erzählungen zu übersetzen. Ihre Figuren sind keine Symbole, sondern echte Menschen mit Widersprüchen und Schwächen.
Gerade das macht diesen Roman so eindrücklich: Er zeigt, wie das Private und das Politische untrennbar verwoben sind – und dass es in der Suche nach Selbstbestimmung nicht nur um große Gesten geht, sondern oft um die kleinen, alltäglichen Entscheidungen, die das Leben prägen. „Dream Count“ist ein Buch, das nachhallt – weil es daran erinnert, dass jede Geschichte zählt.
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