Buchkritik

Irina Rastorgueva – Pop-up-Propaganda. Epikrise der russischen Selbstvergiftung

Stand

Von Autor/in Judith Leister

In „Pop-up-Propaganda“ stellt Irina Rastorgueva die bizarren Propaganda-Techniken Russlands detailliert vor. Sie verdeutlicht, wie paranoid Putins Staat im letzten Vierteljahrhundert geworden ist.

„Pop-up-Propaganda“ hat Irina Rastorgueva ihr neues Buch genannt, weil die heutige Putinsche Wirklichkeitsvernebelung im Grunde ganz ähnlich funktioniert wie in der Zarenzeit, wo einst für Katharina die Große Potemkinsche Dörfer errichtet wurden. Da, wo sich der Autokrat Putin blicken lässt, werden nämlich auf einmal Straßen ausgebessert und Hausfassaden gestrichen.  

Doch leider besucht der heutige Kremlherrscher, wenn überhaupt, nur noch regionale Zentren. Die Peripherie – und die ist im riesigen Russland fast überall – darf sehen, wo sie bleibt. Dort werden Krankenhäuser und Schulen geschlossen und im Winter die Straßen nicht mehr geräumt. 

Absurdes Theater für die russische Öffentlichkeit

Noch erschütternder als der Verfall der Infrastruktur ist das „absurde Theater“ der russischen Öffentlichkeit, wie Rastorgueva es nennt, das inzwischen zum totalen geistigen und moralischen Verfall des Landes geführt hat, gipfelnd in einem imperialistischen Krieg, mit dem die russische Sargindustrie kaum mehr Schritt halten kann.

Die Produktion von Propaganda läuft dagegen auf Hochtouren, wie Rastorgueva an Dutzenden von Beispielen zeigt. So auch an einem Bericht von Russia Today über die angebliche Flucht eines ukrainischen Rabbiners vor den vermeintlich antisemitischen Kiewer Behörden. 

Es wurden Aufnahmen der Synagoge mit den Worten „Tod den Jidden“ und einem Hakenkreuz gezeigt. Außerdem wurden Ausschnitte aus einem Interview mit Rabbi Mikhail Kapustin serviert. In dem Video packt er seine Sachen und sagt: „Ich will nicht weggehen. Aber ich möchte, dass sich meine Kinder sicher fühlen. Deshalb gehe ich.“ Tatsächlich handelt es sich aber nicht um eine Synagoge in Kiew, sondern um eine Synagoge in Simferopol, an der die Schmierereien erschienen, nachdem das russische Militär die Krim besetzt hatte, von wo Kapustin in die Ukraine geflohen war. 

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Russische Medien als Sprachrohre des Putinismus

Um solche Fälschungen, die zum üblichen Instrumentarium der Kremltreuen gehören, entlarven zu können, hat Rastorgueva drei Jahre lang die russischen Medien durchforstet, von staatlichen Sendern bis zu Telegram, von unabhängigen Nachrichtenkanälen bis zur Sonntagabend-Talkshow des Hetzers Wladimir Solowjow im Staatsfernsehen.

Am Rande erfährt man dabei auch, dass Gestalten wie Solowjow oder sein Journalistenkollege Dmitrij Kisseljow in den 1990er-Jahren und teils darüber hinaus noch liberale Ansichten vertraten. Heute sind sie Sprachrohre des Putinismus. 

Neben dem Hass auf die Ukraine und insbesondere Wolodymyr Selenski steht der Hass auf das angeblich sittenlose „Gayropa“ im Vordergrund. Aktuell ist auch der Ausdruck „Liberast“ im Schwange, eine Zusammenziehung aus „liberal“ und „Päderast“.

Angebliche westliche Vernichtungspläne

„Dem Westen“ wird auch unterstellt, Vernichtungspläne gegen Russland zu schmieden. Zur Verbreitung solcher Lügen gibt sich etwa Michail Kowaltschuk, Leiter des Kurtschatow-Instituts, Russlands führender Kernforschungsanstalt, her. 

Seinen Informationen zufolge erarbeiten amerikanische Ethnogenetiker Waffen, die für eine ethnische Gruppe ungefährlich und für eine andere tödlich sind. Die heutigen russischen Behörden beschuldigen die Vereinigten Staaten seit 2009 permanent, biologische Waffen auf dem Territorium der Ukraine, Georgiens, Kasachstans und Armeniens zu entwickeln. Und das ohne jeden Beweis.

In einem Vierteljahrhundert Putin hat die Kremlpropaganda die Dimensionen einer eigenen Wirklichkeit angenommen, stellt Rastorgueva nüchtern fest. Wo immer man ihr Buch aufklappt, springt einem die russische Paranoia entgegen. Es bietet dem Leser eine wohl einzigartige Binnenperspektive auf das heutige Russland. 

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