Am 9. Juni finden nicht nur Kommunalwahlen in Baden-Württemberg statt, sondern auch Europawahlen. Die EU ist wichtig für Baden-Württemberg, hat täglich Einfluss auf das Leben der Menschen im Land - positiv wie negativ. Sechs Beispiele, bei denen die EU den Menschen im Land hilft, oder wo die EU für Frust und Verzweiflung sorgt.
- Freier und einfacher Handel
- Aufwendige EU-Verordnung in der Medizin
- Grenzenloses Reisen und Arbeiten
- Mehr Bürokratie in der Verwaltung
- Zu strenger Naturschutz?
- Günstiger Telefonieren
34 Angebote, eine Stimme Europawahl: Diese Parteien und politischen Vereinigungen stehen in BW auf dem Wahlzettel
Am 9. Juni ist Europawahl. In Baden-Württemberg werden 34 Parteien und politische Vereinigungen auf dem Stimmzettel stehen. Und der ist deutlich kürzer als zuletzt 2019.
Freier und einfacher Handel
Francesco D'Affrito profitiert fast jeden Tag von der EU. Der Italiener hat ein Fisch-Restaurant in Fellbach bei Stuttgart und kocht dort täglich frisch. Seine Hauptzutat holt er höchstpersönlich einmal in der Woche aus Italien. Er fährt dafür auf den Fischmarkt in Chioggia, eine Autostunde südlich von Venedig.
In der alten Markthalle von Chioggia riecht es nach Meer. Kein Wunder, denn alles, was das Mittelmeer an der Adria zu bieten hat, liegt hier zum Verkauf. Meterlange Schwertfische liegen in viel zu kleinen Styroporboxen, ihre Schwerter in die Höhe gestreckt. Daneben glänzende Thunfische. D'Affrito läuft mit weißem Hut durch die Halle und zeigt auf jeweils einen der Fische: Die kommen mit nach Fellbach. Durch die EU geht das ganz einfach und ohne Bürokratie, denn die Rechnung geht direkt ans deutsche Finanzamt, ohne italienischen Umweg.
Gäbe es noch die Grenzen wie vor Inkrafttreten des Schengen-Abkommens im Jahr 2000, könnte man das wegen des ganzen Hin und Her vergessen, so der Restaurantbesitzer. Damals seien noch Untersuchungen vom Veterinäramt nötig gewesen. Auch Geld muss er nicht mehr wechseln - die EU bedeutet für Francesco D'Affrito beim Einkaufen weniger Aufwand.
Aufwendige EU-Verordnung in der Medizin
Im Robert Bosch Krankenhaus (RBK) in Stuttgart hat die EU dagegen für mehr Aufwand gesorgt. Hier arbeitet Bartosz Rylski. Als Arzt will er für seine Patientinnen und Patienten immer das Beste rausholen. Rylski operiert am Herzen, legt zum Beispiel Bypässe. Ein Roboter könnte ihm dabei helfen, die Herzoperationen für die Menschen auf dem OP-Tisch möglichst schonend zu machen. "Die Patienten hätten viel kleinere Wunden und nach dem Eingriff gar keine Schmerzen", sagt Rylski. Der Roboter kommt zwar am Anfang der Operation zum Einsatz. Wenn aber wirklich am Herzen operiert wird, muss er in der Ecke des OP-Saals stehen. Der Grund ist die neue EU-Medizinprodukteverordnung.
Sie schreibt vor, dass in der EU alle Medizinprodukte neu zugelassen werden müssen. Das betrifft zum Beispiel Prothesen, Herzschrittmacher, Katheter und Röntgengeräte. Hintergrund für die neue Verordnung: Vor einigen Jahren gab es einen Skandal, bei dem minderwertige Brustimplantate im Körper gerissen sind. Der dabei ausgetretene Stoff hat möglicherweise Krebs verursacht. Wer jetzt in der EU Medizinprodukte zulassen will, muss strengere Regeln beachten und wird öfter kontrolliert.
Der Operationsroboter im RBK ist zwar bereits seit Jahren erfolgreich auf der ganzen Welt im Einsatz. Dennoch muss auch er nochmal neu zugelassen werden. Das kostet viel Geld. Dem US-amerikanischen Hersteller ist das zu teuer. Er hat deshalb die europäische Zulassung für die OP am Herzen gar nicht mehr beantragt. Ein Nachteil für die Patientinnen und Patienten. Denn so muss der Arzt einen großen Schnitt machen, um am Herzen zu operieren.
"Wir könnten eine bessere Medizin anbieten, die Technologie und die Expertise ist da, nur dürfen wir das jetzt nicht mehr. Das ist letztendlich sehr traurig", sagt Rylski. Eine EU-Verordnung, gedacht zum Wohle der Kranken, die am Ende in manchen Fällen das Gegenteil bewirkt.
Grenzenloses Reisen und Arbeiten
In der Fischhalle in Chiaggio kommt die Einkaufstour von Francesco D'Affrito langsam zum Ende. "Viva quasi", so der italienische Schwabe. Zu deutsch: "so frisch, die leben ja quasi noch". Er packt noch eine Kiste Sardinen ein. Am Ende liegt genug Fisch für die nächste Woche im bereits gekühlten Transporter. Mit einem Knall macht D'Affrito die Schiebetür zu.
Dann ist noch Zeit für ein kleines Treffen mit seiner Tochter Marina, die in Italien als Deutschlehrerin arbeitet. Der 71-Jährige selbst kommt aus Süditalien, seine Frau aus Deutschland. "Ich lebe dazwischen", sagt seine Tochter, "mehr Europa geht ja gar nicht". Dann macht sich D'Affrito auf den Weg zurück nach Deutschland
Seine Route - der Klassiker von und nach Italien - geht über den Brenner. Nach vier Stunden steht das Schild "Austria" am Straßenrand. Er überquert die Grenze nach Österreich. Hier habe er früher immer anhalten müssen, für die Kontrolle. Wäre das heute noch so - "um Gottes Willen, dann würde ich das heute nicht mehr machen." Zwar gebe es hier auch heute immer wieder Staus, die seien aber kein Vergleich zu früher. Nun wird D'Affrito nur noch selten ausgebremst.
Mehr Bürokratie in der Verwaltung
Hannelore Reinbold-Mench wird dagegen gerade von der EU und ihrer Bürokratie aufgehalten und verzweifelt an ihr. Sie ist Bürgermeisterin (Freie Wähler) von Freiamt (Kreis Emmendingen), einer kleinen Gemeinde im Schwarzwald, und würde gerne eine neue Kindertagesstätte bauen. Ihre 4.200-Einwohner-Gemeinde wächst immer weiter und braucht die Kita-Plätze dringend. Eigentlich hat der Gemeinderat schon 2021 beschlossen, einen neuen Kindergarten zu bauen. Doch noch immer steht das alte Gebäude.
Der Grund: Weil die Baukosten eine bestimmte Schwelle überschreiten, muss die Gemeinde das Projekt europaweit ausschreiben. "Wir müssen auch Architekten aus Spanien oder Portugal eine Chance geben, in Freiamt einen Kindergarten bauen zu können", sagt Reinbold-Mench.
Für die Ausschreibung wird extra eine Agentur beauftragt
Doch der Aufwand für die EU-weite Ausschreibung hat alles so sehr verzögert, dass es nun zu spät für eine Förderung für Kindergärten ist. Der Gemeinde fehlt damit ein dringend benötigter Zuschuss von 800.000 Euro. Deswegen kann sie die Kindertagesstätte vorerst nicht bauen. "Ich bin frustriert, weil wir jetzt in der Luft hängen", sagt die Bürgermeisterin. Dabei würde sie Familien mit kleinen Kindern gerne ein besseres Betreuungsangebot machen.
Hinzu kommt: Das Verfahren für die EU-weite Ausschreibung ist sehr kompliziert und aufwendig. In der kleinen Verwaltung in Freiamt würde das zu viel Arbeitskraft binden. Die Bürgermeisterin hat daher eigens eine Agentur beauftragt, damit die Ausschreibung auch korrekt läuft. Auch die hat nochmal extra gekostet: rund 20.000 Euro. - "Das hätte ein neues Spielgerät für den Kindergarten sein können", so Reinbold-Mench.
Zu strenger Naturschutz?
Vom Schwarzwald nach Tübingen. Dort macht Oberbürgermeister Boris Palmer (parteilos) der Naturschutz zu schaffen. Die Universitätsklinik soll erweitert werden. Doch auf dem Dach des Gebäudes hatten Ornithologen einen sehr seltenen und streng geschützten Vogel gesichtet: Den Ziegenmelker. Der Vogel ist in Deutschland vom Aussterben bedroht. Die Wiese hinter der Klinik, wo der Neubau einmal stehen soll, könnte seine Nahrungsquelle sein. Und die gesetzlichen Regelungen in Europa sind klar: Naturschutz geht vor. Also erstmal keine Klinikerweiterung. Für den potenziellen Bauherren ein Irrsinn.
Der Vogel wurde auf dem Dach zuletzt vor über einem Jahr gesehen. Die Stadt könnte schon jetzt mit dem Bau beginnen, müsste jedoch dann eine Ausgleichsfläche im angrenzenden Wald schaffen. Und da der Ziegenmelker offenes Gelände liebt, müssten dann die Bäume weg. Der Wald diene den Menschen zur Erholung und sei landschaftsprägend, so der Oberbürgermeister. "Wahrscheinlich sind um die tausend Bäume getroffen, auf zehn Hektar Wald, die gefällt werden müssen. Also, wie ich das der Stadtgesellschaft erklären soll: Da fällt mir nicht viel Gutes ein", sagt Palmer. Der Bund für Umwelt und Naturschutz (BUND) entgegnet, dass einzelne Bäume durchaus stehen bleiben dürften, die Fläche würde nur aufgelichtet werden. Fest steht: Die geplante Erweiterung liegt zurzeit erstmal auf Eis. Ende August soll nochmal geprüft werden, ob der Ziegenmelker nun tatsächlich aufs Tübinger Klinikdach zurückgekehrt ist.
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Günstiger Telefonieren
Zurück zu Fischrestaurantbesitzer Francesco D'Affritto. Er kommt nach acht Stunden Fahrt von seiner Einkaufstour vom italienischen Fischmarkt wieder in Stuttgart-Fellbach an. Nach der Ankunft folgt die wöchentliche Routine. Zusammen mit zwei Mitarbeitern lädt er den Transporter aus. Rochen, Miesmuscheln, der Schwertfisch - alles wandert in den Kühlraum und wird mit Eis bedeckt.
Danach ruft er bei seiner Tochter in Italien durch: Er ist gut angekommen. Auch beim Telefonieren hat die EU das Leben leichter gemacht. "Früher haben wir für den Urlaub immer eine italienische SIM-Karte fürs Handy gekauft. Mit der deutschen Karte hätten wir zu viel ausgegeben", so Francescos zweite Tochter Pamela D'Affritto.
Die Tour nach Italien zeigt Francesco und seiner Familie: Viele Dinge wurden durch die EU einfacher. Das Lager ist nun für eine Woche wieder gefüllt, dann wird Francesco wieder in seinen weißen Transporter steigen und in Richtung Adria fahren, auf den Fischmarkt.
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