Seit April ist Cannabis in Teilen legal. Viele sorgen sich, dass die pflanzliche Droge Einstieg für härtere Substanzen sein könnte. In Heilbronn hatte eine ehemals Drogenabhängige daher sogar eine Petition gegen die Teillegalisierung auf den Weg gebracht. Der 31-jährige Tim Schweizer aus Stuttgart hat die gegenteilige Erfahrung gemacht.
Cannabis als Ausstiegs- statt als Einstiegsdroge?
Meterhohe Marihuanapflanzen im Wohnzimmer - seit April ist das legal. Tim Schweizer und sein Freund Christopher Steinle kultivieren drei Pflanzen für den Privatgebrauch. Noch fehlt die Lizenz, ab Juli wollen sie mit ihrem Cannabis Social Club Esslingen e.V. in großem Stil anbauen. Auch, weil Tim der pflanzlichen Droge seinen Weg aus der Sucht verdankt.
Der 31-Jährige war jahrelang abhängig von Alkohol und Kokain. In seiner Jugend gerät er in die falschen Kreise, bald hat ihn die Sucht fest im Griff. Er rutscht in die Beschaffungskriminalität, verliert den Kontakt zu seiner Familie, ist zwischenzeitlich obdachlos. Am Tiefpunkt entschließt er: So will er nicht weiterleben. Er kommt bei einem früheren Freund unter und versucht den Entzug. Doch die Symptome sind so stark, dass er sie nicht in den Griff bekommt.
In eine Klinik wollte er nicht, erzählt er. Zu groß war die Angst, dort mit starken Psychopharmaka behandelt zu werden. Nach Recherchen im Internet stößt er auf Beispiele in Kanada und den USA, wo Cannabis als Substitionsmittel in der Suchttherapie eingesetzt wird. Das habe er immer schon nebenbei konsumiert, erzählt Tim, hier sei das Suchtgefühl aber nie so stark gewesen. Ein Jahr lang versucht er daher mithilfe von Marihuana den Entzug. Mit Erfolg - seit 2021 ist er, bis auf die täglichen zwei bis drei Gramm Cannabis, clean.
Suchtklinikum Stuttgart forscht an Cannabis als Substitution
Dr. Maurice Cabanis, Leiter der Suchtklinik in Stuttgart, sieht in der pflanzlichen Droge großes Potential als Substitutionsmittel. Doch bislang ist das in Deutschland nicht zugelassen. Für die Krankenkassen ist eine Suchterkrankung ein Ausschlusskriterium für medizinisches Cannabis auf Rezept. Patientinnen und Patienten müssen das Mittel, falls sie es überhaupt verschrieben bekommen, bislang noch selbst zahlen.
Zu groß ist noch immer der Vorbehalt gegenüber der pflanzlichen Droge, meint Cabanis, zu fest verankert das Ziel der konventionellen Suchttherapie, komplette Abstinenz zu erreichen. Es gebe jedoch viele Suchtpatienten, so Cabanis, bei denen das nicht funktioniert. Häufig resultiere die Drogensucht aus psychischen Problemen oder trete kombiniert mit anderen Herausforderungen auf. Ziel der Suchttherapie müsse hier vor allem Stabilität und Resozialisierung sein. Mit Hilfe von Cannabis sei die Teilhabe an einem normalen Sozialleben in vielen Fällen möglich. Die gesundheitlichen Schäden, sofern nicht mit Tabak konsumiert, seien in der Regel geringer als bei anderen Substitutionsmitteln. An der Suchtklinik in Stuttgart werde Cannabis daher schon heute bedürfnisorientiert eingesetzt, sagt Cabanis.
Cannabis-Suchttherapie in Eigenregie: ein Risiko
Natürlich, macht Cabanis deutlich, ist Cannabis kein Allheilmittel. Letztlich handele es sich auch dabei um eine Droge. Bei manchen Patienten zeige es keine Wirkung, bei anderen starke Nebenwirkungen. Zudem bestehe das Risiko, eine Psychose zu entwickeln. Gerade deshalb sei es so wichtig, es in enger medizinischer Begleitung anzuwenden. Nur so könnten Inhaltsstoffe genau abgestimmt und dosiert werden. Wenn Patientinnen und Patienten, weil die Zulassung fehlt, sich wie Tim einfach selbst mit Cannabis behandeln, kann das gefährlich sein. Denn auf dem freien Markt sind sie auf unkontrollierte Substanzen angewiesen, nutzen sie vielleicht in falschen Situationen oder zu hoch dosiert.
Tim weiß um das Risiko und auch, dass Cannabis nicht für jeden geeignet ist. Für ihn, meint er, funktioniere die Eigenbehandlung mit selbst angebautem Cannabis. Es mache ihn ruhiger, helfe gegen sein ADHS und vor allem halte es die Sucht nach Kokain und Alkohol seit drei Jahren in Schach. Heute hat der ausgebildete Elektriker wieder einen festen Wohnsitz und engen Kontakt zu seiner Familie.
Er wünscht sich, dass mit der Teillegalisierung Vorbehalte und Klischees bezüglich Cannabis abgebaut werden und die Forschung Sprünge macht, damit auch anderen Menschen in ähnlichen Situationen wie seiner geholfen wird.