Cannabis als Ausstiegsdroge?

Stuttgarter besiegt Alkohol- und Koks-Sucht mit Cannabis

Stand
Autor/in
Laura Cloppenburg
Porträt-Foto von Laura Cloppenburg

Der 31-jährige Tim hat seine Drogenabhängigkeit mit Gras in den Griff bekommen. Experten sehen Potential in Cannabis als Substitutionsmittel. Doch noch zahlen die Kassen nicht.

Seit April ist Cannabis in Teilen legal. Viele sorgen sich, dass die pflanzliche Droge Einstieg für härtere Substanzen sein könnte. In Heilbronn hatte eine ehemals Drogenabhängige daher sogar eine Petition gegen die Teillegalisierung auf den Weg gebracht. Der 31-jährige Tim Schweizer aus Stuttgart hat die gegenteilige Erfahrung gemacht.

Cannabis als Ausstiegs- statt als Einstiegsdroge?

Meterhohe Marihuanapflanzen im Wohnzimmer - seit April ist das legal. Tim Schweizer und sein Freund Christopher Steinle kultivieren drei Pflanzen für den Privatgebrauch. Noch fehlt die Lizenz, ab Juli wollen sie mit ihrem Cannabis Social Club Esslingen e.V. in großem Stil anbauen. Auch, weil Tim der pflanzlichen Droge seinen Weg aus der Sucht verdankt.

Der 31-Jährige war jahrelang abhängig von Alkohol und Kokain. In seiner Jugend gerät er in die falschen Kreise, bald hat ihn die Sucht fest im Griff. Er rutscht in die Beschaffungskriminalität, verliert den Kontakt zu seiner Familie, ist zwischenzeitlich obdachlos. Am Tiefpunkt entschließt er: So will er nicht weiterleben. Er kommt bei einem früheren Freund unter und versucht den Entzug. Doch die Symptome sind so stark, dass er sie nicht in den Griff bekommt.

Ich bin aufgewacht schweißgebadet, hab Depressionen gehabt bis hin zu Selbstmordgedanken. Cannabis hat mir da extrem Abhilfe geleistet, es hat die Symptome gelindert.

In eine Klinik wollte er nicht, erzählt er. Zu groß war die Angst, dort mit starken Psychopharmaka behandelt zu werden. Nach Recherchen im Internet stößt er auf Beispiele in Kanada und den USA, wo Cannabis als Substitionsmittel in der Suchttherapie eingesetzt wird. Das habe er immer schon nebenbei konsumiert, erzählt Tim, hier sei das Suchtgefühl aber nie so stark gewesen. Ein Jahr lang versucht er daher mithilfe von Marihuana den Entzug. Mit Erfolg - seit 2021 ist er, bis auf die täglichen zwei bis drei Gramm Cannabis, clean.

Cannabis Joint wird angezündet
Tim raucht am Tag mehrere Cannabis-Joints pur - auf Nikotin will er verzichten.

Suchtklinikum Stuttgart forscht an Cannabis als Substitution

Dr. Maurice Cabanis, Leiter der Suchtklinik in Stuttgart, sieht in der pflanzlichen Droge großes Potential als Substitutionsmittel. Doch bislang ist das in Deutschland nicht zugelassen. Für die Krankenkassen ist eine Suchterkrankung ein Ausschlusskriterium für medizinisches Cannabis auf Rezept. Patientinnen und Patienten müssen das Mittel, falls sie es überhaupt verschrieben bekommen, bislang noch selbst zahlen.

Aktuell ist Cannabis nicht als Substitutionsmittel zugelassen, obwohl wir an vielen Stellen sehen, dass es wirkt. Das ist bedauerlich.

Zu groß ist noch immer der Vorbehalt gegenüber der pflanzlichen Droge, meint Cabanis, zu fest verankert das Ziel der konventionellen Suchttherapie, komplette Abstinenz zu erreichen. Es gebe jedoch viele Suchtpatienten, so Cabanis, bei denen das nicht funktioniert. Häufig resultiere die Drogensucht aus psychischen Problemen oder trete kombiniert mit anderen Herausforderungen auf. Ziel der Suchttherapie müsse hier vor allem Stabilität und Resozialisierung sein. Mit Hilfe von Cannabis sei die Teilhabe an einem normalen Sozialleben in vielen Fällen möglich. Die gesundheitlichen Schäden, sofern nicht mit Tabak konsumiert, seien in der Regel geringer als bei anderen Substitutionsmitteln. An der Suchtklinik in Stuttgart werde Cannabis daher schon heute bedürfnisorientiert eingesetzt, sagt Cabanis.

In Deutschland gibt es zu wenige Therapieplätze und eine Suchterkrankung ist hier oft Ausschlusskriterium. Da kann Cannabis eine gute Überbrückung sein.

Cannabis-Suchttherapie in Eigenregie: ein Risiko

Natürlich, macht Cabanis deutlich, ist Cannabis kein Allheilmittel. Letztlich handele es sich auch dabei um eine Droge. Bei manchen Patienten zeige es keine Wirkung, bei anderen starke Nebenwirkungen. Zudem bestehe das Risiko, eine Psychose zu entwickeln. Gerade deshalb sei es so wichtig, es in enger medizinischer Begleitung anzuwenden. Nur so könnten Inhaltsstoffe genau abgestimmt und dosiert werden. Wenn Patientinnen und Patienten, weil die Zulassung fehlt, sich wie Tim einfach selbst mit Cannabis behandeln, kann das gefährlich sein. Denn auf dem freien Markt sind sie auf unkontrollierte Substanzen angewiesen, nutzen sie vielleicht in falschen Situationen oder zu hoch dosiert.

Tim hat den Entzug mithilfe von Cannabis geschafft.
Der 31-jährige Tim Schweizer (rechts) hat mithilfe von Cannabis den Entzug von Alkohol und Kokain geschafft.

Tim weiß um das Risiko und auch, dass Cannabis nicht für jeden geeignet ist. Für ihn, meint er, funktioniere die Eigenbehandlung mit selbst angebautem Cannabis. Es mache ihn ruhiger, helfe gegen sein ADHS und vor allem halte es die Sucht nach Kokain und Alkohol seit drei Jahren in Schach. Heute hat der ausgebildete Elektriker wieder einen festen Wohnsitz und engen Kontakt zu seiner Familie.  

Ich hab durch Cannabis geschafft, wieder einen normalen Alltag zu führen. Nicht geleitet von irgendwelchen Drogen oder Lügen. Ich bin wieder der, der ich früher mal war.

Er wünscht sich, dass mit der Teillegalisierung Vorbehalte und Klischees bezüglich Cannabis abgebaut werden und die Forschung Sprünge macht, damit auch anderen Menschen in ähnlichen Situationen wie seiner geholfen wird.

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