Etwa 20.000 Bürger demonstrieren am 13. August 2010 in Stuttgart (Foto: SWR, Franziska Kraufmann)

Hintergrund: Zehn Jahre nach Baubeginn

2010: Baubeginn, Planungsfehler, Schwarzer Donnerstag

Stand

Die Anfänge des Bahnprojekts reichen weit zurück. Eine bessere Bahnverbindung zwischen Stuttgart und Ulm war das erste Ziel des Projekts, das dann als "Stuttgart 21" bekannt wurde. Eine Chronologie:

Offizieller Baubeginn, Planungsfehler sorgen für Wirbel

Februar 2010: Offizieller Beginn der Bauarbeiten: Bundesverkehrsminister Peter Ramsauer, Deutsche-Bahn-Chef Rüdiger Grube, Ministerpräsident Günther Oettinger und Stuttgarts Oberbürgermeister Wolfgang Schuster heben symbolisch den Prellbock am Gleis 049 an. Erste Arbeiten im Gleisvorfeld beginnen.

Der Startknopf für den Baubeginn wird am 2. Februar 2010 gedrückt (Foto: picture-alliance / dpa, Bernd Weißbrod)
Baubeginn mit Drücken des symbolischen Startknopfs mit Ministerpräsident Oettinger (2.v.l.), Bahn-Chef Grube (3.v.l.), Bundesverkehrsminister Ramsauer (4.v.r.) und Stuttgarts OB Schuster (3.v.r.).

Mai 2010: Eine Urheberrechtsklage von Peter Dübbers, dem Enkel des Hauptbahnhof-Architekten Paul Bonatz, gegen den Abriss der Seitenflügel des Gebäudes wird in erster Instanz vom Landgericht abgewiesen. Dübbers legt vor dem Oberlandesgericht Berufung ein.

Bonatz-Enkel Peter Dübbers will die Seitenflügel retten (Foto: picture-alliance / dpa, Bernd Weißbrod)
Peter Dübbers, der Enkel des Architekten des Stuttgarter Hauptbahnhofes Paul Bonatz, steht am 22.4.2010 vor dem Seitenflügel des Hauptbahnhofes Stuttgart.

Juni 2010: Durch einen Planungsfehler beim Umbau einer Signalanlage kommt es zu ersten Behinderungen im S-Bahn-Verkehr.

Juli 2010: Ein Papier der Schweizer Planungsfirma SMA aus dem Jahr 2008 wird öffentlich. Es sagt Engpässe im Zugverkehr durch Stuttgart 21 voraus, der Hauptbahnhof werde zum Nadelöhr. Das baden-württembergische Verkehrsministerium spricht von einem "Arbeitspapier", um genau das zu vermeiden, was es angeblich kritisiere.

Die ICE-Trasse zwischen Wendlingen und Ulm soll 865 Millionen Euro teurer werden als geplant. Bahnchef Rüdiger Grube nennt Gesamtkosten von 2,89 Milliarden Euro (2004: 2,025 Milliarden Euro).

Bürgerproteste nehmen zu

Der erste Baucontainer wird am 30. Juli am Hauptbahnhof aufgestellt. Von nun an verstärken sich die Proteste von Bürgern.

August 2010: Im "Stuttgarter Appell" fordern Prominente ein Moratorium (Aufschub/Prüfung) für die Baumaßnahmen sowie eine Entscheidung durch die Bürger. Rund 60 Sozialdemokraten verlangen in einem Brief an die Parteivorsitzenden, dass sich die SPD für eine Bürgerbefragung stark machen soll.

Das Oberlandesgericht Stuttgart weist einen Eilantrag von Peter Dübbers auf Unterlassung der Abbrucharbeiten am Nordflügel des Hauptbahnhofs zurück.

Ein Gutachten im Auftrag des Umweltbundesamtes zum Schienengüterverkehr kommt zu dem Schluss: S21 bringt keine großen Vorteile und stört andere wichtige Bahnprojekte. Außerdem werden Kosten für Stuttgart 21 inklusive Neubaustrecke in Höhe von 11 Milliarden Euro (bislang rund 7 Milliarden) prognostiziert.

Etwa 20.000 Bürger demonstrieren am 13. August 2010 in Stuttgart (Foto: SWR, Franziska Kraufmann)
Rund 20.000 Menschen demonstrieren am 13. August 2010 am Stuttgarter Bahnhof gegen Stuttgart 21

Stuttgart-21-Gegner demonstrieren immer wieder zu tausenden. Als am 13. August der Bahnhof mit dem Abriss eines Vordaches am Nordflügel erstmals sichtbar beschädigt wird, bilden am Abend 20.000 Menschen eine Kette um Teile des Bahnhofs. Eine Woche später sind es mindestens genau so viele bei einem Schweigemarsch durch die Innenstadt.

Das Verkehrsministerium in Stuttgart weist nach einem Bericht des Nachrichtenmagazins "Spiegel" Vorwürfe zurück, wonach Stuttgart 21 nur mit einem fragwürdigen Millionenauftrag für die Bahn durchgesetzt worden sei.

Die Grünen schlagen einen vorläufigen Stopp des Projekts und und "Friedensgipfel" vor, um über einen möglichen Ausstieg zu diskutieren. Die Verantwortlichen lehnen ab, und Projektsprecher Wolfgang Drexler mahnt, dass ein Stopp 1,4 Milliarden Euro kosten würde.

Der Architekt Frei Otto, bis 2009 Mitplaner von Stuttgart 21, warnt vor Überschwemmungen und einem "Anheben" des Bahnhofs. Die Erde unter Stuttgart sei voller Wasser, Quellen und Gipsschichten. Otto fordert einen sofortigen Baustopp. Die Projektträger sprechen von "Panikmache" und sachlich nicht fundierten Äußerungen.

Nordflügel fällt, Schwarzer Donnerstag im Stuttgarter Schlossgarten

Am 25. August ist für die Projektgegner "Tag X": Ein Bagger beginnt, den Nordflügel des Bahnhofs abzureißen. Wieder strömen tausende Menschen zum Protest zusammen, sieben Demonstranten besetzen das Dach. Ein TGV wird an der Abfahrt gehindert. Nach Ansicht der Polizei haben die Proteste "ihren friedlichen Charakter verloren".

Am 27. August demonstrieren so viele Menschen wie noch nie gegen Stuttgart 21: Die Polizei spricht von 30.000, die Veranstalter von 50.000 Menschen. Sie ziehen vom Bahnhof zum Landtag, um eine Menschenkette zu bilden.

September 2010: Stuttgart 21 erhält eine Doppelspitze, die das Bahnprojekt künftig in der Öffentlichkeit vertritt: Nachfolger des bisherigen Sprechers Wolfgang Drexler werden der ehemalige Stuttgarter Regierungspräsident Udo Andriof (CDU) und der Unternehmensberater Wolfgang Dietrich.

Am 30. September eskalieren die Auseinandersetzungen über S21, als die Polizei zur Sicherung der Baustelle im Stuttgarter Schlossgarten Reizgas, Schlagstöcke und Wasserwerfer gegen Demonstranten einsetzt. Nach Angaben der Behörden werden mehr als 180 Menschen verletzt. Die Bilder von schwer verletzten Rentnern und Jugendlichen sorgen bundesweit für großes Aufsehen. In der Nacht werden die ersten Bäume gefällt.

Schlichtung soll Streit befriedigen

Oktober 2010: Ministerpräsident Stefan Mappus (CDU) schlägt den früheren CDU-Generalsekretär Heiner Geißler als Schlichter vor.

Der Protest wächst weiter: Am 9. Oktober gehen nach Schätzungen der Polizei rund 65.000 Menschen gegen S21 auf die Straße. Die Veranstalter sprechen von 90.000 bis 100.000 Teilnehmern.

22. Oktober bis 27. November: Es werden acht Runden öffentlicher Schlichtung abgehalten. Erstmals müssen eine Landesregierung und die Bahn ein Großprojekt vor einer Bürgerbewegung rechtfertigen. Am 30. November spricht Geißler sich in seinem Schlichterspruch für den Weiterbau des Projekts aus, verlangt aber Nachbesserungen. So schlägt er einen Stresstest vor, der nachweisen soll, ob der geplante Tiefbahnhof wie behauptet 30 Prozent leistungsfähiger ist als der Kopfbahnhof. Die Bauarbeiten sind während der Schlichtungsgespräche auf Eis gelegt.

Dezember 2010: Die Gesellschaft für deutsche Sprache kürt den Begriff "Wutbürger" zum Wort des Jahres. "Stuttgart 21" landet auf Platz zwei.

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SWR