Rezension

„Identitätspolitik“: Bernd Stegemanns misslungene Kritik an der Wokeness

Stand
AUTOR/IN
Beate Meierfrankenfeld

Der Berliner Dramaturg Bernd Stegemann nimmt in seinem Essay die Identitätspolitik aufs Korn – und scheitert. Sein Buch errichtet Strohmänner, kommt weitgehend ohne Belege aus und ist schlussendlich das, was es zu bekämpfen vorgibt: reiner Kulturkampf.

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Identitätspolitik: Was ist das eigentlich?

Was das eigentlich ist, worum es hier geht, schon darüber gibt es Uneinigkeit. Die einen sagen: Identitätspolitik macht die Position benachteiligter Gruppen für alle sichtbar, indem sie diese Positionierung betont.

Für die anderen dagegen spaltet Identitätspolitik die Gesellschaft, weil sie unlösbare Konflikte forciert. So sieht es auch Bernd Stegemann. Seine Arbeitsdefinition des schwer definierbaren Phänomens lautet:

 „Identitätspolitik ist Politik der ersten Person. ‚Wir zuerst!‘ und ‚Ich als Identität X‘ sind die Fundamente einer solchen Politik“.

Stegemanns Unbedarftheit ist kalkuliert

Für Stegemann folgen sowohl „America First!“ als auch „Black Lives Matter“ diesem Muster. Rechte und linke Identitätspolitik gleichermaßen also. Warum aber sollen nur „schwarze Leben“ zählen und nicht „alle Leben“, fragt der Autor zu Beginn des Buches.

Das ist kalkuliert unbedarft, schließlich wurde schon oft erklärt, was „Black Lives Matter“ will: für eine Minderheit das einfordern, was für die Mehrheit ohnehin gilt. Gleiches Recht für alle also, unter Bedingungen der Ungleichheit kämpferisch formuliert.

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Prof. Dr. Bernd Stegemann, Kultursoziologe an der Hochschule für Schauspielkunst Ernst Busch, Berlin

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Individuum will den Universalismus untergraben

Bernd Stegemann deutet die Sache genau umgekehrt. Seine These: Identitätspolitik ist auf Vorrechte für bestimmte Gruppen aus. Den Universalismus – Erbe der Aufklärung und Bedingung der Demokratie – möchte sie abschaffen.

„Die negative Folge besteht in der unentwegten Zunahme neuer Identitäten, die jede für sich einen unbedingten Anspruch an das Gesamt der Gesellschaft stellen. […] Jeder will sein eigenes Zentrum sein, das das Leben aller anderen bestimmen darf“, schreibt Stegemann.

Beispiele liefert Stegemann nicht

Und welche wären diese sich inflationär vermehrenden Identitäten? Beispiele liefert Stegemann nicht, sein Buch kommt häufig ohne Belege aus. Es schlägt den abstrakt-alarmistischen Sound an, den man aus vielen Artikeln zum Thema kennt. 

Mitsamt den bekannten Motiven: Moralismus, „Empörungsroutine“, Cancel Culture und Sprachvorschriften, „missionarischer Eifer“ und „weinerliche Herrschsucht“ der Wokeness – der sich alle anderen „unterwerfen“ sollen. 

Seltsame Lesart der Klimadebatte

All das ist nicht neu, und Stegemann findet identitätspolitisches Dominanzstreben auch dort noch, wo man es sonst eher nicht verortet. In der Debatte um die Coronapolitik etwa.

Oder in der Klimafrage: „Klimapolitik tritt mit der Machtgeste auf, hier müssten die Interessen der jungen Generation gegen die Alten durchgesetzt werden. […] Sie macht aus der Frage des Klimawandels eine Frage, die Menschen in Gut und Böse einteilt, sie verteilt Schuld auf verschiedene Menschengruppen.“

Das Verhalten der Vergangenheit für die Lage der Gegenwart verantwortlich zu machen, wäre dann schon identitäres Freund-Feind-Denken. Eine seltsame Lesart, liegt doch der politische Konflikt schlicht in der Sache, und gerade eine linke Position müsste reale Interessensgegensätze scharf herausarbeiten.

Stegemann sieht überall den woken Gegner

Stegemann sieht stattdessen überall einen mächtigen, symbolpolitisch geschulten Gegner am Werk. Es ist eine ironische Pointe des Buches, dass es den Kulturkampf anprangert, zugleich aber sehr kulturkämpferisch gegen ein großes Hauptübel zu Felde zieht. 

Und sich selbst auf der Seite der Guten einrichtet. Im Schlusskapitel heißt es: „Dass dieser Versuch der Ausnüchterung, wie er auf den vorherigen Seiten versucht wurde, wiederum als böse diffamiert werden wird, zeigt, wie prekär die Lage des Universalismus geworden ist.“

Nein, böse ist dieses Buch nicht. Nüchtern leider auch nicht.

Und es stimmt ja, was Bernd Stegemann wiederholt gefordert hat: Linke sollten nicht ständig über Wokeness reden. Die Bedrohungen für die Demokratie liegen woanders.

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Beate Meierfrankenfeld