Plurale Vielfalt schreiben, aber nicht denken

Essay „Wir“ des Bundespräsidenten Frank-Walter Steinmeier: Auf der Suche nach den Stärken Deutschlands

Stand
AUTOR/IN
Eva Marburg

In seinem Essay „Wir“ blickt der Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier auf die deutsche Geschichte nach 1945 und versucht, ein positives Deutschlandbild zu zeichnen, das identifikationsstiftend sein könnte.

Audio herunterladen (4,3 MB | MP3)

Gleich ein doppeltes Jubiläum gebe Anlass, um nach einem „Wir“ in Deutschland zu fragen, erklärt Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier zu Beginn seines Essays, nämlich: 75 Jahre Grundgesetz und 35 Jahre Fall der Mauer.

Sein Buch soll an das erinnern, was uns verbinde. In der Unzufriedenheit und Verzagtheit der derzeitigen Krise, wolle er außerdem „ein Verständnis dafür vermitteln, wie Demokratie funktioniere“.

Positives Deutschlandbild als Identifikationsmöglichkeit

Mit diesen Fragen blickt Steinmeier zurück in die deutsche Geschichte nach 1945 und versucht so etwas wie ein positives Deutschlandbild zu zeichnen, das als Identifikation herhalten könnte.

Ein Deutschland mit seinen Errungenschaften und Innovationen, mit seiner nach dem Nationalsozialismus mühsam erarbeiteten Demokratiewerdung – Deutschland wie in Exportweltmeister, Meister der Erinnerungskultur und Wiedervereinigung. Deutschland ist nach Steinmeier ein geachtetes Land, eine liberale Demokratie, die schon oft vor Krisen stand und sie immer bewältigen konnte.  

Plädoyer für das "Wir" und demokratischen Patriotismus

Eine dieser Stärken, so Steinmeier, stelle das „Wir“ dar, ein Sinn für das Gemeinwesen, den es irgendwie zu reaktivieren gelte. Denn, das ist eines der Lieblingsthemen des Bundespräsidenten, die Bürgerinnen und Bürger müssten mal wieder ran, die Demokratie zu verteidigen.

Denn Steinmeier vermisst Bürgerengagement in Vereinen und anderswo; die Gesellschaft sei aufgesplittert und in einer Erregungsspirale gefangen, es bräuchte aber einen „demokratischen Patriotismus“ wie er es nennt, vielleicht sogar eine allgemeine soziale Pflichtzeit.  

 Wenn das politische Wir eines Landes mobilisiert werden kann, ja, dann erwächst daraus auch so etwas wie Stärke.

Die Verantwortung den Bürger*innen übertragen

So vage und ungefähr das alles klingt, so ist es auch. Und es ist beeindruckend, wie Steinmeier in seinem Essay die Verantwortung des Staates den Bürgerinnen und Bürgern selbst in die Schuhe schiebt.

Die Werte einer rechtsextremen Partei sind auf Rekordniveau; der Sozialstaat wird rigide abgebaut, noch nicht mal eine Kindergrundsicherung findet Konsens; Menschen fragen sich, wie sie Wohnraum und Lebenskosten bezahlen sollen und Steinmeier findet, wir sollten uns mehr in der freiwilligen Feuerwehr engagieren.

Vielen Stiftungen und Bürger-Initiativen wurden zuletzt die Gelder gestrichen, Steinmeier findet, wir sollten nicht so auf die eigene Karriere fixiert sein. Millionen Menschen protestieren Anfang des Jahres gegen Rechtsextremismus, ohne bisher politische Antwort zu erhalten, Steinmeier findet, es gebe keinen Zusammenhalt.     

 Problematischer Wir-Begriff

So betet dieses Buch in nahezu entwürdigender Weise die hohlen Vokabeln vor, mit denen der Bundespräsident mahnend an die Bürgerpflichten erinnert: Zuversicht, Bereitschaft zur Verantwortung, Geduld, Kompromissbereitschaft und gemeinsame harte Arbeit.

 Doch das größte Problem des Essays ist der „Wir-Begriff“, den Steinmeier, auf der vermeintlichen Erfolgsgeschichte Deutschlands aufbauend, hier vorstellt. Seinem “Wir“ liege kein Homogenitätsgedanke zugrunde, versichert er, doch der Text beweist das Gegenteil.

 Wer von „unserem großen Glück der deutschen Wiedervereinigung“ schreibt, meint deutsch-deutsches Glück – in dem die Erfahrungen von Menschen mit Einwanderungsgeschichte ausgeklammert werden.

Dass diese die Wiedervereinigung gerade nicht als Freudentaumel erlebten, sondern als eine Eskalation von rassistischer Gewalt, dürfte eigentlich keine Neuigkeit sein, zeigt aber, dass Steinmeier plurale Vielfalt zwar schreiben, aber nicht denken kann.

 Bittere Bilanz

Wer schreibt, dass „Wir“ abweichende Haltungen akzeptieren lernen müssten, dass „Wir“ unsere Angst und Furcht vor, so wörtlich, Andersartigkeit ablegen sollten – denkt immer noch in „Wir“ und die „Anderen“.

Eine bittere Bilanz für ein Buch, das eine Gemeinschaft imaginieren will, die sich durch Solidarität und Fürsorge auszeichnet. Steinmeiers „Wir“ Essay ist der Beweis mit Ansage, dass sich aus einer nationalen Selbsterzählung, die weiterhin auf Ausgrenzung baut, keine Perspektiven für die Zukunft ableiten lassen.    

Buchkritik Frank-Walter Steinmeier (Hrg.) - Wegbereiter der deutschen Demokratie. 30 mutige Frauen und Männer 1789-1918

Ein kluger Sammelband portraitiert dreißig Vordenker- und Vorkämpfer*innen der Demokratie in Deutschland.
Rezension von Konstantin Sakkas.
C. H. Beck Verlag, 448 Seiten, 28 Euro
ISBN 978-3-406-77740-0

SWR2 lesenswert Kritik SWR2

Buchkritik Salman Rushdies Buch „Knife“ über den Messerangriff: Plädoyer für die Freiheit

Auf den Hass hat er mit Liebe geantwortet und ihn durch sie überwunden. In seinem neuen Essay „Knife“ verarbeitet der Autor Salman Rushdie die beinahe tödlichen Verletzungen, die ihm ein islamistischer Attentäter 2022 zufügte. Das Buch bringt alles mit für einen Bestseller, meint Thomas Kretschmer.
Das Leben dank seiner Familie festgehalten
Aus seinem neuen Buch erfahren wir, wie Salman Rushdie selbst den Angriff erlebt hat: Die Ohnmacht, die Ängste, die Schmerzen macht der Autor mit all seinem Können erfahrbar: wie entsetzlich es sich anfühlt, beatmet zu werden, nicht mehr schreiben zu können, ein Auge zu verlieren. Und gleichzeitig macht er klar, dass er ohne seine Frau und seine Familie das Leben nicht hätte festhalten können.
Die Sprache ist sein Messer
Vor dem 12. August 2022, schreibt Rushdie, habe er das Leben gewöhnlicher New Yorker geführt. „Dann kam das Messer und zerschnitt dieses Leben.“ Er habe sich aber zu wehren gewusst: Für ihn sei die Sprache sein Messer gewesen. „Sie könnte auch das Werkzeug sein, mit dem ich meine Welt wieder errichten und wieder einfordern konnte, sie könnte den Rahmen formen, mit dem ich mein Bild von der Welt wieder an die Wand zu hängen vermochte.“
Drastisch detailreich, aber auch erstaunlich humorvoll
Salman Rushdie weiß noch immer wie nur wenige mit Sprache umzugehen. Und so bräuchte dieser Text zwei Trigger-Warnungen: einerseits vor den drastischen Details der Notfall-Medizin – andererseits vor dem Humor des Autors, den er sich schon wenige Wochen nach dem Attentat wieder gefunden hat. Rushdie hat den Hass seines Attentäters überwunden – und dem Publikum ein packendes Plädoyer für die Freiheit geschenkt.

SWR Kultur am Morgen SWR Kultur

Stand
AUTOR/IN
Eva Marburg