Pro und Contra Fantasy-Literatur

„Game of Thrones“-Autor George R.R. Martin wird 75: Kann Fantasy auch gute Literatur sein?

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AUTOR/IN
Nina Wolff
Carsten Otte

Drachen, Schwerter, Monster und Magie: Die Welt, die der Fantasy-Autor George R.R. Martin mit seinem Epos „Das Lied von Eis und Feuer“ erschaffen hat, wurde durch die Serie „Game of Thrones“ weltberühmt und hat einen Fantasy-Boom auf dem Weltmarkt ausgelöst. Ist dieser Boom magischer Welten eine Chance für die Literatur? Die SWR2-Literatur-Redaktion ist in dieser Frage gespalten.

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Wie viele Schwerter und Drachen verträgt ein gutes Buch?

Das Genre Fantasy hat sich auf dem Serienmarkt und in den Buchhandlungen durchgesetzt, die Zahl der Game-of-Thrones-Epigonen ist gewaltig. Aber: Wie viele Schwerter, wie viele Drachen erträgt eigentlich ein gutes Buch? Und ist die Fantasy-Faszination vor allem ein Ausdruck für Eskapismus? Oder ist das Gegenteil der Fall

Pro: Den Stempel „Trivialliteratur“ bekommt das Genre zu Unrecht

Von SWR2 Literaturredakteurin Nina Wolf

Hätte es den „Zauberberg“ schlechter gemacht, hätte Thomas Mann tatsächlich das Zaubern mit eingeschrieben? Wie würde „Die Suche nach der verlorenen Zeit“ mit Zeitreisen aussehen?  Oder „Der Steppenwolf“ mit Werwölfen?

„Drachen können ein Buch erst lesenswert machen. Fantasy kann also schon lange viel mehr als Eskapismus.“

Zugegeben, dieses Gedankenexperiment erfordert eine Menge Vorstellungskraft. Passend zum Thema, schließlich sind dem Fantastischen keine Grenzen gesetzt.Diese Grenzenlosigkeit bildet sich in den „Fantasy“ Abteilungen im Buchhandel ab: Mit diversen Stilen, Erzählformen und Geschichten ist das Angebot so bunt und verzweigt, dass es nicht möglich ist all diese Bücher über einen Kamm zu scheren.

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Das wird trotzdem gerne gemacht, denn den Stempel „Trivialliteratur“ bekommt das ganze Genre nicht los – zu Unrecht. Die Nachfrage nach fantastischer Literatur ist groß. Das mag daran liegen, dass die jungen Erwachsenen von heute mit Trollen, Hexen und magischen Welten literarisch sozialisiert wurden – Stichwort „Harry Potter“ und der Fantasy-Boom der 2000er Jahre.

Die magischen Geschichten ermutigten eine ganze Generation zum Lesen. Und das nicht zu schmal, denn das Lesen vieler Fantasy Reihen erfordert Ausdauer. Im Vergleich zu George R. R. Martins Romanreihe „Das Lied von Eis und Feuer“ ist „Der Zauberberg“ ein Pixi-Büchlein. Das nicht nur zur Unterhaltung: Christine Nöstlingers „Wir pfeifen auf den Gurkenkönig“ oder Michael Endes „Momo“ bewiesen schon in den 70/80er Jahren, dass Fantasy auch politisch sein kann.

Fantasy-Autoren und Autorinnen schreiben meist auf der Folie der Wirklichkeit: Soziale und gesellschaftliche Themen werden in ihren Welten durchdekliniert. Diskurse unserer Zeit, Feminismus und Critical Race Theory schreibt so zum Beispiel die Autorin Nora K. Jemisin in ihre übernatürlichen Welten ein.

Progressive Fantastik ist auf dem Vormarsch. Fantasy kann also schon lange viel mehr als Eskapismus. Und so oder so: Macht es ein Buch nicht lesenswerter, wenn darin Drachen auftauchen?

Warnhinweis in der Fantasy-Abteilung einer Buchhandlung (Foto: SWR, Foto: Carsten Otte)
Warnhinweis in der Fantasy-Abteilung einer Buchhandlung

Contra: Immergleiche, fantasielose Fantasy-Geschichten

Von SWR2-Literaturredakteur Carsten Otte

Versuchen Sie mal, einen zeitgenössischen Roman zu finden, der eine halbwegs realistische Geschichte erzählt und für eine fünfzehnjährige Leserin geeignet ist! Gibt es durchaus, ist aber meistens nicht vorrätig. Ich habe es wieder mal versucht: In meiner Buchhandlung führen die meisten Wege jedenfalls in die Fantasy-Abteilung. Vampire, Elfen, Ungeheuer, blutrünstige Charaktere mit mythischen Zauberkräften – das alles gibt es zuhauf.

„Fantasy ist das Genre, das kein Verbrechen, kein Pathos und keine Gefühlsorgie auslässt.“

Doch so groß die Auswahl in diesem Genre ist, die Sprache dieser Publikationen ist auf frappierende Weise ähnlich. Gerne beginnen Bücher mit so abwechslungsreichen Titeln wie „Twisted Flame. Wenn Magie erwacht“, „Dark Sigils. Wie die Dunkelheit erwacht“, „King of Battle and Blood“ oder „Netz des Dämons“ in einer Stakkato-Sprache, die mich erschaudern lässt: „Schnelle Schritte. Keuchende Atemzüge. Gedämpfte Stimmen.“ Warum auch Verben, wenn einfache Adjektiv-Substantiv-Kombinationen schon ausreichen.

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Die Urteile der Buchhändlerin lauten: „Grandios!“ oder: „Suchtfaktor!“ Was auch deshalb kurios ist, weil die Bücher mit Warnhinweisen versehen sind: „Liebe Leser:innen, dieses Buch enthält Elemente, die potenziell triggern können. Diese sind: Mord, Schilderungen von schweren Erkrankungen und Tod von Familienangehörigen.“

Fantasy ist das Genre, das kein Verbrechen, kein Pathos und keine Gefühlsorgie auslässt. Dient das womöglich einer Weltflucht, weil die Gegenwart wahlweise öde oder eben viel schrecklicher ist? Fest steht: Das Grauen unterhält. Gerade sind auch die Kriegsepen für Erwachsene wieder in Mode gekommen.

Ermüdet von „Elementen“, die mich anders triggern, als Verlage es für möglich halten, erschöpft von den immergleichen, nämlich fantasielosen Fantasy-Geschichten ziehe ich mich nach einer kurzen Recherche wieder in die Literatur-Ecke zurück. Das gibt es doch nicht … letzten Monat war die doch noch größer! Omg, Magie und Dunkelheit herrschen allerorten!

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Weitere Infos und Studien gibt’s hier:
https://www.blfd.bayern.de/mam/blfd/presse/2022_08_29_pm_1400_jahre_alter_klappstuhl.pdf
https://www.iflscience.com/could-dragons-on-westeros-fly-aeronautical-engineering-and-math-say-they-could-65183
https://www.cranfield.ac.uk/people/dr-guy-gratton-15984634
https://www.businessinsider.com/game-of-thrones-dragons-fly-real-life-2019-5
https://www.tor.com/2016/06/24/can-daenerys-fly-to-westeros-on-her-dragons/

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Redaktion: Chris Eckardt und Jochen Steiner
Idee: Christoph König

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