Buchkritik

Annie Ernaux – Das andere Mädchen

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AUTOR/IN
Kristine Harthauer

Als Annie Ernaux als kleines Mädchen ihre Mutter bei einem Gespräch belauscht, ändert sich ihr Leben mit einem Schlag: Sie erfährt, dass ihre Eltern vor ihr bereits eine Tochter hatten, die mit sechs Jahren an Diphtherie gestorben ist. Mit ihren Eltern wird sie nie über diese Schwester sprechen, erst Jahrzehnte später versucht Annie Ernaux in einem Brief sich dieser Unbekannten zu nähern: „Das andere Mädchen“ heißt der erschütternde und suchende Text.

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Ein vermeintlich harmloses Gespräch verändert alles für die damals zehnjährige Annie Ernaux

Es gibt Dinge, die sind nicht für Kinderohren bestimmt. Geheimnisse, die Eltern für sich behalten, weil sie sich oder ihr Kind schützen wollen. Von so einem Geheimnis erfährt Annie Ernaux an einem heißen Sommertag im Jahr 1950, sie ist damals 10 Jahre alt.

Ihre Mutter unterhält sich mit einer anderen Frau am Straßenrand. Annie wird hellhörig und lauscht ihrer Mutter, heimlich und atemlos:

Sie erzählt, dass sie und ihr Mann vor mir eine andere Tochter gehabt hätten, die vor dem Krieg in Lillebonne an Diphtherie gestorben sei. Sie beschreibt die Beläge in Hals und Rachen, die Atemnot. Sie sagt: bei ihrem Tod sah sie aus wie eine kleine Heilige […]
über mich sagt sie, sie weiß von nichts, wir wollten sie nicht belasten
am Schluss sagt sie über dich, sie war viel lieber als die da
Die da, das bin ich.
aus: „Das andere Mädchen“ von Annie Ernaux

Sätze, die wie eine kalte, lautlose Flamme über sie hinweg fuhren, so beschreibt Annie Ernaux dieses Erlebnis in ihrem Buch „Das andere Mädchen“. Der Text ist ein Brief an ihre Schwester, die vor Annies Geburt im Alter von sechs Jahren gestorben ist.

Eine langsame Annäherung an die Leerstelle, die ihre Schwester hinterlassen hat

Nie hat Annie Ernaux mit ihren Eltern über deren Verlust gesprochen. Die tote Schwester ist und bleibt eine Leerstelle, die Annie Ernaux zu füllen versucht.

Sie nähert sich ihr an, wie sie es oft in ihren autobiographischen Texten tut: Über Briefe, über Erinnerungen an ihre eigene Kindheit und Jugend und über die wenigen Fotografien, die ihre Schwester zeigen, wie das Portraitfoto, das früher im Schlafzimmer ihrer Eltern stand:

Darauf schwebte dein Kopf körperlos vor einem verschneiten, blass-blauen Hintergrund, mit glattem schwarzem Haar, […] dunklen, wie geschminkt wirkenden Lippen, weißer Haut und einem blassrosa Schimmer auf den Wangen.
Dieses verloren gegangene Foto hätte ich gern auf diesen Seiten abgedruckt. Das Foto von dir als Heilige, das Foto aus meiner Vorstellung.
aus: „Das andere Mädchen“ von Annie Ernaux

Das andere Mädchen bleibt für Annie ein Mythos

Das sind die beiden Pole, zwischen denen Annie Ernaux sich schreibend bewegt: Sie hat nur wenige Gegenstände, die ihr etwas verraten und die reichen nicht aus, damit aus dieser fremden Person eine Schwester wird.

Das andere Mädchen wird vor allem eines bleiben: für ihre Eltern eine Heilige – und für Annie ein Mythos. Wie sich Ernaux dem schreibend annähert, erinnert an das Entwickeln eines Fotos, bei dem man in die ersten sichtbaren Konturen etwas hineininterpretiert.

Die direkte Ansprache wirkt auf künstliche Weise intim

Und je länger man liest, desto deutlicher wird: Dieser Brief an die tote Schwester ist ein Brief, den Annie Ernaux auch an sich selbst schreibt. Nicht nur, weil die Schwester diesen Text nie lesen wird, sondern vor allem, weil Annie bei der Auseinandersetzung mit ihrer Vergangenheit klar wird, woher ihr Drang zu schreiben kommt: 

Ich schreibe nicht, weil du gestorben bist. Du bist gestorben, damit ich schreibe, das ist ein großer Unterschied.
aus: „Das andere Mädchen“ von Annie Ernaux

An ihre Schwester wendet sie sich mit einem „Du“, das auf eine künstliche Weise intim wirkt. Denn in diesem „Du“ steckt eigentlich „die fremde Andere“, und es dient gleichzeitig auch als ein Spiegel, in dem Annie sich selbst erkennt.Sie begreift, dass der Tod ihrer Schwester ihr Leben erst ermöglicht hat.

Eine erschütternde und bewegende Lektüre

Ihre Eltern waren sogenannte einfache Leute, die in der nordfranzösischen Provinz eine Kneipe und einen Lebensmittelladen betrieben. Ein zweites Kind hätten sie sich nicht leisten können.

Annie blieb ein Einzelkind, so wie ihre Schwester ein Einzelkind geblieben wäre, wäre sie nicht an Diphtherie gestorben. Das zu lesen ist erschütternd und bewegend. Die Nüchternheit, mit der Ernaux erzählt, verstärkt dieses Gefühl und macht ihren Text zugleich umso zugänglicher.

Zudem weitet sie wie schon in „Die Jahre“ oder in „Der Platz“ auch hier den Blick vom Privaten aufs Kollektive, von ihrer Biografie auf die französische Gesellschaft.

Schonungslos erzählt Ernaux vom Verlassen ihrer sozialen Klasse

„Das andere Mädchen“ erzählt auch davon, was es in den Jahren nach dem 2. Weltkrieg für Menschen wie ihre Eltern bedeutet hat, ein Kind aufzuziehen, wie Verluste mithilfe von Religiosität und Verheimlichung verarbeitet werden, und welche Kraft Eltern aus ihren lebenden Kindern ziehen. An ihre tote Schwester schreibt Ernaux:

Du warst ihr Unglück gewesen, ich wusste, dass ich ihre Hoffnung war, ihre Komplikation, ihre Ereignisse von der Erstkommunion bis zum Abitur, ihr Erfolg. Ich war ihre Zukunft.
aus: „Das andere Mädchen“ von Annie Ernaux

Annie ist es, die Abitur macht, nach Paris zum Studieren geht, aufsteigt und ihre soziale Klasse verlässt. Davon erzählt sie eindrücklich und schonungslos in ihren autobiografischen Schriften.

Ernaux zeigt sich von ihrer verletzlichsten Seite

Mit „Das andere Mädchen“ stellt sich Ernaux erstmals der Frage, ob sie diese Energie und ihre Lebenskraft vielleicht aus der toten Schwester zieht.

Sie gesteht sich ein, dass ihre Schwester wie ein Schatten in ihrem Leben präsent ist und sie gegen diesen Schatten anschreibt, sich von ihm lösen möchte. Schreiben als Selbstbehauptung.

Als „Ethnologin ihrer selbst“ hat sich Annie Ernaux einmal bezeichnet. Mit „Das andere Mädchen“ offenbart Annie Ernaux ihre wahrscheinlich verletzlichste Seite: Sie setzt sich offen mit dem Ursprung nicht nur ihres Schreibens, sondern ihrer ganzen Existenz auseinander. Und erzählt damit auch wieder etwas über uns: Über den Tod, der zwar Leben beendet, aber auch Leben ermöglicht.

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