Buch-Tipp

Björn Gottstein: „Der Klang der Gegenwart. Eine kurze Geschichte der neuen Musik“

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AUTOR/IN
Michael Rebhahn

Wie schreibt man ein Buch über Neue Musik? Wie bringt man ihre zahlreichen Strömungen, Stile, Schulen und Seitenwege in eine lesbare Form? Björn Gottstein hat es versucht und eine „kurze Geschichte der Neuen Musik“ geschrieben: „Der Klang der Gegenwart“. Michael Rebhahn über ein Lesebuch, aus dem Kenner und Liebhaber gleichermaßen Gewinn ziehen können.

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Eines vorweg: Im Folgenden bin ich das, was man neudeutsch „biased“ nennt — vermutlich, weil die Entsprechung „voreingenommen“ so arg gewichtig klingt. Wie auch immer: Björn Gottstein war sechs Jahre lang mein Kollege in der Redaktion Neue Musik und zum 100-jährigen Bestehen der Donaueschinger Musiktage habe ich ein Buch gemeinsam mit ihm herausgegeben. Schon deshalb wird das, was nun kommt, keine Rezension, sondern eine Buchvorstellung.

Neue Musik ist schwer zu definieren

„Der Klang der Gegenwart“ heißt das Buch. Gut 250 Seiten Text, in dem etwas versucht wird, was, zumal in dieser Knappheit, eigentlich kaum möglich scheint.

Es war schon mal leichter, ein Buch über Neue Musik zu schreiben.

Die Schwierigkeit liegt heute vor allem in der Diversifikation dessen, was Neue Musik — abseits aller Groß-N/Klein-N-Diskussionen — beschreibt und umfasst.

Ist die Neue Musik noch ein musikalisches Genre? Oder ist sie inzwischen eher eine Art des Denkens von, mit und über Musik? „Verbindliche Prinzipien“, schreibt Gottstein, „sind ihr jedenfalls längst abhandengekommen, und verbissene, dogmatische Auseinandersetzungen sind passé“.

Ein subjektiver Gang durch die Musik seit 1940

Dementsprechend unternimmt Björn Gottstein von vornherein nicht den Versuch, eine Geschichte im Sinne historiografischer Vollständigkeit zu schreiben. Eines muss klar gesagt werden: „Der Klang der Gegenwart“ ist keine regelrechte Musikgeschichte, keine enzyklopädische Darstellung.

Das Buch ist vielmehr die Niederschrift eines subjektiven Gangs durch die Musik seit etwa 1940. „Wer ein Buch über Neue Musik schreibt“, sagt Gottstein „schreibt zwangsläufig auch immer über sein eigenes Hören“. Und es ist genau diese Perspektive des sein eigenes Hören rekapitulierenden Autors, die das Buch auszeichnet. 

Björn Gottstein
Björn Gottstein, von 2015 bis 2022 Künstlerischer Leiter der Donaueschinger Musiktage, rekapituliert in seinem neuen Buch sein eigenes Hören von Neuer Musik.

Ein „Neue-Musik-Lesebuch“

„Der Klang der Gegenwart“ ist ein „Neue-Musik-Lesebuch“. Die Kapitelüberschriften lauten etwa „Weltanschauung – Neue Musik und Politik“, „Musikalische Erfinder – Bastler, Tüftler und Zweckentfremder“, „Parlando – Sprache, Stimme und Gesang“« oder „Über Eindruck und Ausdruck, Subjekt und Objekt“.

Innerhalb dieser ganz unterschiedlichen Themen-Terrains erzählt Gottstein assoziativ, manchmal sprunghaft, stellt instruktive Bezüge her und erzeugt nicht selten ein Gefühl von „Ach ja, das gab's ja auch noch!“

Die volle Vielfalt kommt zur Geltung

Und was es alles gab und gibt, und wie vielfältig der Klang der Gegenwart sich artikulieren kann, zeigt sich schon beim Blick ins Namens- und Werkregister des Buchs: Da steht Ikonisches wie John Cages „4'33“, Karlheinz Stockhausens „Gesang der Jünglinge“ oder Mathias Spahlingers „passage/paysage“ neben Sun Ra und Yoko Ono, dem Label Wandelweiser, Bands wie Throbbing Gristle oder Sunn O))) oder auch Hape Kerkelings „Hurz!“.

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Besonders gefreut hat mich das zwölfte Kapitel, überschrieben mit „Am Rande: Freie Improvisation, Electronica, Noise, Glitch, Hauntology, Drone, Ambient, Industrial“.

Strömungen abseits der „offiziellen“ Neue Musik

Hier werden mit großer Sachkenntnis und einschlägigen Primärerfahrungen in Berliner Clubs in der Zeit um die Jahrtausendwende, musikalische Strömungen vorgestellt, die sich zwar nicht Neue Musik nannten, aber es womöglich eher waren, als die etwas ermüdete „offizielle“ Neue Musik dieser Zeit.

In der Szene der freien Improvisation aber auch auf Plattenlabels wie Raster-Noton oder Mille Plateaux kam eine Ästhetik auf, der es gelang, maximal abgezirkelt und spielerisch zugleich zu sein.

Weibliche und außereuropäische Positionen inklusive

Ein weiteres Desiderat von „Der Klang der Gegenwart“ erwähnt Björn Gottstein im Vorwort ausdrücklich. „Bislang“, schreibt er, „wurde die Musikgeschichte des 20. Jahrhunderts immer als eine primär weiße und männliche Geschichte erzählt“.

Vor diesem Hintergrund bemüht er sich, in seinem Buch weibliche und außereuropäische Positionen stärker in den Diskurs einzubinden. Zudem ist das vierte Kapitel explizit der „Neuen Musik in einer postkolonialen Welt“ gewidmet.

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Buch für alle musikaffinen Menschen ein Gewinn

„Der Anspruch des Buches soll sein“, so fasst es Björn Gottstein am Ende seines Vorworts zusammen, „dass man sich nach seiner Lektüre einigermaßen souverän über Neue Musik unterhalten kann“.

Diese Einordnung als „Konversationshilfe“ hat mich etwas überrascht, ebenso wie die geäußerte Befürchtung, dass einer Person, die sich „beruflich mit Neuer Musik befasst“ das Buch „vielleicht etwas lang“ werden könne.

Ich denke, dass „Der Klang der Gegenwart“ solche Einordnungen bzw. Vorwarnungen nicht braucht. Es ist ein Buch, dass man, wenn man wie auch immer „musikaffin“ ist, eigentlich nur mit Gewinn lesen kann.

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Michael Rebhahn