Buchkritik

Annie Ernaux – Die leeren Schränke

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AUTOR/IN
Susanne von Schenck (Übernahme vom SR)

Der Debütroman der späteren Literaturnobelpreisträgerin Annie Ernaux enthält bereits die großen Themen ihres späteren Werks, allen voran den harten Aufstieg aus einfachen Verhältnissen in die bürgerlich-intellektuelle Welt und das Zerrissensein zwischen den Klassen. Ein Schlüsselroman für das Verständnis von Annie Ernaux’ Werk, hart, aber absolut lesenswert.

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Annie Ernaux war 34 Jahre alt und noch als Lehrerin tätig, als ihr Erstling „Les armoires vides“, „Die leeren Schränke“, in Frankreich beim renommierten Verlag Gallimard erschien. Wie ihr gesamtes Werk ist auch dieser Roman weitgehend autobiographisch geprägt, wenn auch mit fiktionalen Elementen durchsetzt.

Schwangerschaft als soziales Scheitern

Denise Lesur, die Protagonistin und Ich-Erzählerin, ist Anfang zwanzig und liegt in ihrem Wohnheimzimmer. Das, was Annie Ernaux später in „Das Ereignis“ im Detail schildert, hat die junge Literaturstudentin gerade durchlitten. Ungewollt schwanger geworden von einem Studenten, der sie sitzengelassen hat, hat sie eine Engelmacherin aufgesucht. Nun liegt sie unter Qualen im Bett  und wartet darauf, dass der Fötus „abgeht“. Die Geschichte spielt Anfang der 1960er Jahre, als auf Abtreibungen in Frankreich eine Gefängnisstrafe steht. Erst 1975 wurden sie durch „la Loi Veil“, das Gesetz der damaligen französischen Gesundheitsministerin und späteren Präsidentin des Europaparlaments, Simone Veil, legalisiert.

„Sie spricht von Sexualität, von sexuellen Phantasien, von einer ungewollten Schwangerschaft, von einer Abtreibung usw. Ich kann mir gar nicht vorstellen, was für einen Sprengstoff das Buch 1974 gehabt haben muss. Annie Ernaux hat zu mir gesagt: ja das Buch wurde nicht verstanden, damals.“

sagt Sonja Fink, die das Buch sehr gut übersetzt hat, was mit all den Argot-Begriffen und Regionalismen keine leichte Aufgabe war.  Für Denise Lesur ist diese Schwangerschaft gleichbedeutend mit sozialem Scheitern. In einem durchlaufenden monologischen Fließtext, in dem sie zwischen Gegenwart und Vergangenheit hin- und herspringt, erzählt sie ihre Geschichte.

Aufstieg aus bescheidenen Verhältnissen

Sie wächst in bescheidenen Verhältnissen auf, anfangs glücklich zwischen dem Laden und der Kneipe, die ihre Eltern betreiben, dem Plumpsklo auf dem Hof, der kleinen Straße im Vorort, in dem vor allem Arbeiter und Bauern leben. Die Mutter möchte, dass es Denise einmal besser geht, und da sie eine brillante Schülern ist, rackern sich die Eltern ab, um sie auf eine Privatschule zu schicken. Der Abgrund, der sich zwischen ihrer Herkunft und der bürgerlichen Welt auftut, verstärkt sich, je älter Denise wird.

„Es wird mir nie gelingen, genug Abschlüsse anzuhäufen, um den ganzen Scheiß zu übertünchen, meine Familie, die grölenden Säufer, die dumme Trine, die ich gewesen bin, mit ihrer vulgären Art der Ausdrucksweise. Ich werde es nie schaffen, durch Bildung und bestandene Prüfungen das Mädchen, das ich vor fünf Jahren oder sechs Monaten war, auszuradieren, die Tochter der Lesur. Ich werde immer auf mich selbst herabblicken.“

In keinem von Annie Ernaux‘ Büchern werden der soziale Aufstieg und die Entfremdung von der eigenen Herkunft drastischer geschildert als in diesem ersten Roman. Schonungslos und verletzlich gleichermaßen spürt Annie Ernaux der Problematik des Wechsels von einer gesellschaftlichen Klasse in eine andere nach - und zugleich auch der brutalen Entfremdung von Eltern und Kind, die damit für ihre Protagonistin einhergeht. Annie Ernaux hat immer wieder betont, dass auch sie ein „transclasse“, ein „Klassenflüchtling“ ist und eigentlich nirgendwo dazugehört.

„Meine Großeltern waren Landarbeiter, meine Eltern Arbeiter und ich die erste, die studierte. Ich bin also so etwas wie ein Klassenflüchtling. Ich bin von einer Welt in die andere gewechselt, die Welt der Beherrschten, die ich verlassen habe in die, in der ich aufgenommen wurde – ich  bin aber weder in der einen noch in der anderen zuhause. So werfe ich einen Blick auf die Welt, aus der ich stamme und auf die, in der ich jetzt lebe. Es ist eine Art natürliche Soziologie.“

Zerrissen zwischen den Klassen

Form und Inhalt von „Die leeren Schränke“ lassen an einen Bildungsroman denken, der aber vor allem ein „Verbildungsroman“ ist. Viele Figuren und Themen, die Lesern von Annie Ernaux‘ Werk bekannt sind, hat die Autorin bereits in „Die leeren Schränke“ angelegt: die Mutter, der sie später in „Eine Frau“ ein Denkmal setzt, der Vater, über den sie in „Der Platz“ schreibt, die soziale Scham, die Abtreibung. Und das Zerrissensein zwischen den gesellschaftlichen Klassen – das Hauptthema der Autorin, das sie in diesem Erstling in einer schneidend-vulgären Sprache schildert. Erst später wird sie zu dem nüchtern - sachlichen Ton finden, den wir kennen. Gnadenlos blickt sie auf Armut, auf Betrunkene, den Schmutz, als könnte sie sich niemals davon befreien. Ein Schlüsselroman für das Verständnis von Annie Ernaux Werk, hart, aber absolut lesenswert.

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