SWR2 am Morgen

Ein Song aus der Jugend

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Deutsche Schriftsteller und Autoren schreiben über ihre kleinen Niederlagen

Heute, mit über fünfzig, scheinen sich die Szenen meiner Schlafträume nicht mehr so plastisch zu gestalten wie früher. Der letzte dieser Art ist Jahre her. Ich erinnere mich aber genau. Es war eine Szene so plastisch, dass sie heller nachleuchtete, als das Morgenlicht im Bad war, und deutlicher nachklang als das schaumige Bürstengeräusch auf meinen Zähnen.

Im Traum bin ich so alt, wie ich war, als ich den Traum träumte. Offenbar habe ich ein uraltes Tonband wiedergefunden, dem ich auch in Wirklichkeit öfter nachgetrauert hatte und das ich im Traum auf einem Gerät abspiele, wie ich es in Wirklichkeit gar nicht mehr besaß. Im Traum sehe ich aber den braunen Streifen Magnetband ganz genau. Wickelt sich langsam von einer Rolle auf die andere, geführt durch den Tonkopfkanal unter der polierten Metallzierblende. Ich rieche den Resopalkorpus in Nussbaumoptik, ich höre das feine Klicken, mit dem das analoge Zählwerk auf dem nächsten Hunderter einrastet.
Und vor allem höre ich die Stimme Martins, als er fünfzehn war und ich sechzehn. Er singt ein Lied von mir. Er hat die verbliebenen vier Saiten seiner elektrisch verstärkten Gitarre so tief wie möglich gestimmt, und während er singt, spielt er langsam, spannungsvoll auf diesem Bass. Die sonoren Noten lassen im Bauch meines Traum-Ichs die Wiesenschmetterlinge meiner Jugend wiederauferstehen, und als von den tieffrequenten Tönen der Schnarrteppich unter der kleinen Trommel zu vibrieren beginnt, jagt ihm ein Lustschauer über den Nacken.

Es ist mein sechzehnjähriges Ich, das am Schlagzeug sitzt und nur sacht das große Becken rührt, den Stock auf den Trommelrand neben der Spannschraube schnalzen lässt. Mein älteres Traum-Ich entsinnt sich nur dunkel an die Aufnahme und lauscht gespannt. Dann: große Trommel und Beckenschlag zugleich. Speed-Rock-Tempo. Lautstärke. Unglaublicher Drive. Phantastischer Refrain. Meinem Traum-Ich bleibt die Spucke weg. Was für Kreativität! Leidenschaft! Energie! Das waren wir?
Tagelang behielt ich diese Traumszene in Erinnerung. Tagelang noch konnte ich den Refrain singen: Naanaanaanaa nananaa…

Tagelang bewegte mich eine Mischung aus Melancholie und Stolz.

Dann, nach vielleicht drei, vier Tagen, hörte ich meinen Refrain im Radio.

Es war "This Is Just A Punkrocksong", von Bad Religion. 1996. Aber das ist unwichtig. Wichtig ist, wir hatten ihn 1973 vorweggenommen. Leider erst im Nachhinein. Im Traum. Einem superplastischen Traum.

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SWR