Notfallsanitäter Tobias Michels von der Johanniter Luftrettung in seinem Büro am Nürburgring. (Foto: SWR)

Menschen in Flutnacht mit Feuerwehrleinen gerettet

Nach Ahrflut: Luftretter fordert mehr Hubschrauber mit Seilwinde in RLP

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Ursula Barzen

Die Luftrettung hat in der Flutnacht Camper im Ahrtal gerettet - und zwar mit einfachen Feuerwehrleinen und Muskelkraft, weil kein Hubschrauber mit Seilwinde zur Verfügung stand.

Am 14. Juli 2021 war Notfallsanitäter Tobias Michels als Luftretter der Johanniter nachmittags gerade mit dem Rettungshubschrauber in Richtung Westerwald unterwegs, als aus der Rettungsleitstelle in Koblenz das Kommando kam, ins Ahrtal zu fliegen. Dort seien auf einem Campingplatz bei Dorsel etwa zehn Menschen in ihren Wohnwagen vom Wasser eingeschlossen.

Rettungseinsatz auf einem Campingplatz im Ahrtal

Schon der Flug durchs enge, verregnete Ahrtal sei riskant gewesen, erzählt Michels. Weil die Wolken so tief hingen, sei die Sicht miserabel gewesen.

„Wir hatten keine Seilwinde, kein Material, um den Menschen zu helfen.“

Als der Rettungshubschrauber am Campingplatz Stahlhütte ankam, stand der Platz bereits unter Wasser. Feuerwehrleute hatten verzweifelt versucht, Camper aus ihren Wohnwagen zu befreien. Doch die Strömung war zu stark. Rettung erhofften sie sich aus der Luft. Doch der erste Gedanke von Tobias Michels war: "Da können wir ja gar nicht helfen. Wir haben keine Seilwinde, kein Material, um den Menschen zu helfen."

Denn der Rettungshubschrauber der Johanniter ist nicht dazu ausgestattet, Menschen aus der Luft zu retten. Einen Hubschrauber mit Seilwinde gab es vor einem Jahr in Rheinland-Pfalz nicht. Erst in diesem Jahr soll laut Innenministerium der Rettungshubschrauber in Imsweiler in der Pfalz mit einer Winde ausgestattet werden und einsatzbereit sein. Das macht Tobias Michels auch noch ein Jahr später fassungslos und wütend.

Kaum Hubschrauber mit Seilwinde verfügbar

Viele Versuche entsprechend ausgestattete Hubschrauber zu bekommen scheiterten. So stellte das rheinland-pfälzische Innenministeriums nach eigenen Angaben ein nationales Hilfeersuchen auch an private Flugdienste. Aber weder Bundeswehr, noch Bundespolizei, noch private Anbieter hätten helfen können. Auch die Suche des Gemeinsamen Melde- und Lagezentrums von Bund und Ländern (GMLZ) nach einem geeigneten Einsatzmittel über Staatsgrenzen hinweg, wie Belgien und Niederlande, haben laut Innenministerium in der Nacht keinen Erfolg gebracht.

Ahrtal

Später Hubschraubereinsatz wirft Fragen auf Flutkatastrophe: Warum flog die Bundeswehr erst am nächsten Tag?

Während der Flut im Ahrtal war der Bedarf an Hubschraubern mit Seilwinden groß. Nach SWR-Recherchen hat die Bundeswehr einen solchen Hubschrauber ganz in der Nähe stationiert. Zum Einsatz kam er aber erst am nächsten Morgen.

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In der Nacht der Flutkatastrophe waren es Berufsfeuerwehrleute aus Wiesbaden, die mit einem Hubschrauber der hessischen Polizeifliegerstaffel im Ahrtal Menschen retteten. An Seilwinden am Hubschrauber hängend befreiten die Höhenretter auch am Folgetag noch die Eingeschlossenen aus Häusern, Autos oder auf Bäumen sitzend.

Ein zusätzliches Problem war laut Innenministerium die extreme Wettersituation in der Nacht vom 14. auf den 15. Juli 2021. Dunkelheit, Wind und Regen hätten einen Rettungseinsatz mit Seilwinde sehr gefährlich gemacht, so eine Sprecherin des Innenministeriums, denn die Hubschrauber müssten sehr niedrig fliegen und dabei könnten Hindernisse wie Stromleitungen oder Bäume leicht übersehen werden.

Lösung in der Not: Feuerwehrleinen statt Seilwinde

Mit genau diesen Problemen hatte auch die Crew der Luftretter bei Dorsel zu kämpfen, als sie am 14. Juli ihre riskante Rettungsaktion über dem Campingplatz starteten. Nur mit ein paar Leinen der Feuerwehr ausgestattet, seien sie über die Dächer der Wohnwagen geflogen, auf die sich die eingeschlossenen Camper retten konnten, erzählt Michels.

Bad Neuenahr-Ahrweiler

Storytelling-Podcast Die Flut – Warum musste Johanna sterben?

Juli 2021: Die 22-jährige Johanna Orth aus Bad Neuenahr-Ahrweiler ist auf dem besten Weg in eine erfüllte Zukunft. Gerade fertig mit der Ausbildung, frisch verliebt und mit der Aussicht auf eine eigene Konditorei. Dann reißt sie die Flutwelle aus dem Leben. Der Host Marius Reichert ist selbst in Bad Neuenahr-Ahrweiler zu Hause und berichtete als Reporter aus Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz über die Flut. Er kennt die Schicksale der Betroffenen - auch die Geschichte von Johanna. Zusammen mit ihren Eltern begibt sich Marius auf die Suche nach Antworten rund um die Ereignisse dieser verhängnisvollen Nacht: Wie kam Johanna ums Leben? Wie konnte es so weit kommen? Warum wurde Johanna nicht früher gewarnt? Wer trägt Verantwortung? Johanna soll den mehr als 180 Todesopfern der Flut ein Gesicht geben, so der Wunsch der Eltern, denn der Schrecken dieser Katastrophe darf nicht in Vergessenheit geraten. Mithilfe verschiedener Gesprächspartner - Betroffene, Angehörige, Politiker:innen, Einsatzkräfte, Expert:innen - geht Marius Reichert diesen Fragen auf den Grund. Die ersten sechs Folgen sind am 1. Juli 2022 erschienen. Ein Update zum zweiten Jahrestag erscheint am 7. Juli 2023: Wie geht es den Orths zwei Jahre nach der Katastrophe und wie steht es um die Aufarbeitung? 

Der Podcast ist eine Produktion von SWR und WDR. 

Hier noch eine Warnung: In diesem Podcast werden die Todesumstände von Johanna und der Umgang mit ihrem Tod explizit beschrieben. Wenn euch Themen wie Tod, Trauer oder Suizid belasten oder ihr selbst von den Ereignissen betroffen wart und traumatisiert seid, dann hört euch den Podcast besser nicht an oder nicht allein. Hilfe findet ihr z.B. bei der Telefonseelsorge oder beim Traumhilfe-Zentrum im Ahrtal: www.thz-ahrtal.de

Bei geöffneter Hubschraubertür hätten er und der Notarzt den Piloten vorsichtig an Hindernissen vorbei navigiert. "Wir sind bis auf eine gewisse Höhe der Wohnwagendächer herangeflogen, haben die Leinen zu den Menschen heruntergelassen und mit aller Kraft festgehalten, bis der Hubschrauber sie am Ufer in Sicherheit gebracht hatte." Ein riskantes Manöver. Denn die Leinen hätten sich jederzeit verheddern können.

"Da war nur noch Wasser."

Insgesamt fünf Menschen und einen Hund konnten sie so retten, bevor das Wasser auch den letzten Campingwagen flutete. Sie seien noch ein letztes Mal über den Platz geflogen, sagt Michels, weil noch eine Feuerwehrfrau und zwei weitere Menschen vermisst worden seien und, um auch wirklich sicherzugehen, dass sie niemanden übersehen hatten, aber "da war nur noch Wasser."

Extreme Situation für erfahrenen Notfallsanitäter

Die Rettungsaktion habe seinen Blick auf den Katastrophenschutz im Land verändert, sagt Michels. Denn die Flutnacht habe die Schwächen deutlich gemacht. Der Katastrophenschutz müsse künftig besser aufgestellt sein, fordert er. Und auch die Tatsache, dass erst jetzt - ein Jahr später - der erste Hubschrauber in Rheinland-Pfalz mit einer Seilwinde ausgestattet werden soll, könne er nicht nachvollziehen.

Es gebe genügend Situationen, in denen solche Hubschrauber gebraucht würde, sagt er. Aber dann müsse erst einer aus Hessen, Nordrhein-Westfalen oder Luxemburg angefordert werden. Dass das nicht immer möglich ist, zeigt das Beispiel der Flutkatastrophe vor einem Jahr.

Land will Polizeihubschrauber mit Seilwinden anschaffen

Vom rheinland-pfälzischen Innenministerium heißt es auf Anfrage dazu: Voraussichtlich in zwei Jahren soll es für die Polizeihubschrauberstaffel zwei neue Polizeihubschrauber mit Seilwinden geben. Die beiden neuen sind demnach auch in der Lage, Menschen zu retten und können auch bei Bränden eingesetzt werden. 

Außerdem soll der in Imsweiler in der Pfalz stationierte Intensivtransporthubschrauber der ADAC Luftrettung mit einer Winde ausgestattet werden. Der Hubschrauber könnte dann laut Ministerium auch verletzte Menschen aus unwegsamem Gelände holen. Derzeit werde das Personal dafür geschult, heißt es. Man hoffe, dass er noch in diesem Jahr einsatzbereit sei.

RLP

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Ursula Barzen