Immer mehr Menschen in Baden-Württemberg sind von Geld- und Existenzsorgen betroffen. Zu diesem Ergebnis kommt eine aktuelle Umfrage von Diakonie und Caritas unter ihren Schuldnerberatungsstellen und der Allgemeinen Sozialhilfe. Caritas und Diakonie sprechen von einer "neuen Armut", die es so vorher nicht gegeben habe. Die Verbände befürchten, dass sich diese Effekte in der kommenden Zeit noch verstärken könnten.
In zwei Drittel der Beratungsstellen kämen mehr Menschen als vor dem Untersuchungszeitraum Anfang des Jahres 2023 - mehr Personal gäbe es aber nicht. Dadurch verlängerten sich die Wartezeiten auf bis zu fünf Wochen bei der Allgemeinen Sozialberatung und bis zu sechs Monaten bei der Schuldnerberatung.
Auch die Bundesarbeitsgemeinschaft Schuldnerberatung beobachtet die steigende Nachfrage nach Beratung. "Wir bekommen mehr Menschen in die Beratung, die vorher nicht bei uns waren", sagte Eva Müffelmann, Vorstandsmitglied der Bundesarbeitsgemeinschaft Schuldnerberatung, am Donnerstag am Rande eines Treffens in Freiburg.
Schuldnerberatung warnt vor Zunahme der Privatinsolvenzen
Verbraucherschutzministerin Steffi Lemke (Grüne) sagte bei der Freiburger Tagung per Video: "Der Bedarf an Beratung war wahrscheinlich noch nie so groß wie jetzt, damit Menschen nicht in die Überschuldung geraten oder wieder aus den Schulden herausfinden". Laut Lemke gelten rund sechs Millionen Menschen in Deutschland als überschuldet. Die Schuldnerberatungen warnten zudem vor einer Zunahme der Privatinsolvenzen.
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Viele Familien und Rentner von Armut betroffen
"Wer bisher bereits arm oder von Armut bedroht war, ist von der aktuellen Krise am stärksten betroffen. Zunehmend rutschen aber auch Menschen aus der Mittelschicht in Armut", sagte Annette Holuscha-Uhlenbrock vom Vorstand des Caritasverbandes der Diözese Rottenburg-Stuttgart am Donnerstag.
Unter den Betroffenen sind laut der Umfrage mehr Familien, aber auch ein hoher Anteil von Rentnerinnen und Rentnern. Sie könnten Rechnungen nicht mehr bezahlen und litten unter Zukunftsängsten. Vor allem Preissteigerungen von Energie und Lebensmitteln bringen die Betroffenen laut der Umfrage in Schwierigkeiten. Diese Menschen hätten oft eine Arbeit, aber ihr Einkommen reiche nicht mehr aus, um den Lebensunterhalt zu bestreiten.
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Schuldner- und Sozialberatung fordern mehr staatliche Zuschüsse
Die Wohlfahrtsverbände fordern deshalb ein Sozialmonitoring, um Bedarfe besser zu erkennen und Hilfen anzupassen. Menschen wirksam Hilfe und Unterstützung zu leisten, die bereits in der Armutsspirale sind oder hineinzugeraten drohen, sei besonders wichtig, sagte Caritasdirektorin Birgit Schaer, Vorständin des Caritasverbandes für die Erzdiözese Freiburg. "Neben finanzieller Entlastung brauchen diese Menschen niederschwellige Anlauf- und Beratungsstellen, die möglichst schnelle und unbürokratische Soforthilfe bieten können", sagte Schaer. Die Allgemeine Sozialberatung und die Schuldnerberatung bräuchten staatliche Zuschüsse, so die Forderung an die Politik.
Oberkirchenrat Urs Keller, Vorstandsvorsitzender der Diakonie Baden, forderte eine Umverteilungsdebatte. "Immer mehr Menschen kommen, immer neue Bedarfsgruppen klopfen an. Gleichzeitig stagniert die finanzielle Förderung der Hilfsangebote durch Bundes- und Landesregierung", so Keller. Auch bei den Kommunen werde darüber nachgedacht, die Mittel zu kürzen oder ganz zu streichen. Der gesellschaftliche Zusammenhalt müsse uns eine Umverteilungsdebatte wert sein, so Keller.
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Bei der stichprobenartigen Umfrage Anfang des Jahres in den Beratungsstellen wollten die Verbände herausfinden, inwieweit auch Menschen, die bisher noch ohne staatliche Hilfen zurechtkamen, jetzt Beratungsstellen aufsuchen. Es habe sich nicht um eine repräsentative Studie gehandelt. Vielmehr sei es darum gegangen, einen Eindruck von den konkreten Beratungserfahrungen zu bekommen, so die Wohlfahrtsverbände.
Die kirchlichen Wohlfahrtsverbände Caritas und Diakonie in Baden-Württemberg engagieren sich nach eigenen Angaben für die Interessen von armen, benachteiligten und hilfsbedürftigen Menschen. Demnach vertreten sie als Dachverbände in Baden-Württemberg 8.000 evangelische und katholische Einrichtungen und Dienste.