Blumen und Kerzen, im Hintergrund Menschen: Trier trauert am Mittwoch 02.12.2020 in der Fussgängerzone um die Opfer der Amokfahrt vom Vortag. Der mutmaßliche Amokfahrer ist einem psychiatrischen Gutachten zufolge vermindert schuldfähig. Am 16. August 2022 wird das Urteil erwartet. (Foto: IMAGO, IMAGO / Becker&Bredel)

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Psychisch gestörte Attentäter – Seelische Krankheiten und Gewalt

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Nach Attentaten heißt es oft, der Täter sei psychisch krank. Tatsächlich leiden viele unter einer wahnhaften Schizophrenie. Sind psychisch kranke Menschen besonders gefährlich?

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Tödliche Schüsse in einem Heidelberger Hörsaal, Amokfahrt mit fünf Toten in Trier, ein vor den Zug gestoßener Mann im badischen Waghäusel – oft heißt es nach solchen Meldungen, der Täter sei mutmaßlich psychisch krank.

Tatsächlich sind die meisten psychisch Kranken nicht gefährlicher als andere. Doch begeht eine kleine Minderheit einen großen Teil der tödlichen Gewalttaten.

Selbst Terroristen sind nicht immer nur religiös oder politisch motiviert. Oft ist die Ideologie eine Rechtfertigung dafür, den Wunsch nach Gewalt auszuleben.

Sind psychisch Kranke gewalttätiger als psychisch Gesunde?

Ja. Sehr umfangreiche, an Zehntausenden von Leuten durchgeführte Studien zeigen, dass die Normalbevölkerung zu 98 Prozent gewaltfrei ist. 2 Prozent der Normalbevölkerung, überwiegend Männer jüngeren Alters, neigen zu Gewalttaten. Bei psychisch Kranken liegt der Anteil bei 4 Prozent. Aber: Immerhin 96 Prozent leben friedlich und sind nicht aggressiv oder gewalttätig.

Welcher Anteil der Gewalttaten wird von psychisch Kranken begangen?

Studien zeigen, dass die Taten von Gewalttätern zu 15 Prozent durch psychische Erkrankungen erklärbar sind – wenn man alle Gewalttaten zusammennimmt: leichte Körperverletzung, Randale, Sachbeschädigung bis hin zu schwersten Gewalttaten.

Wenn man Mord und Totschlag betrachtet, ist die Rate von psychisch Kranken erheblich höher. Schätzungen von Experten gehen von 50 bis 90 Prozent aus.

Welche psychischen Störungen erhöhen das Risiko für Gewalttaten?

Von den vielen Menschen mit Depressionen und krankhaften Ängsten geht kaum eine Gefahr aus. Anders ist es bei Wahnerkrankungen, etwa der Schizophrenie. Wenn ein schizophrener Mensch in seinem Wahn negative Gedanken wie Tötungsfantasien entwickelt, ist er – laut Statistik – sieben bis acht Mal gefährlicher als ein Mensch, der keine Psychose hat. Wenn er dazu noch Medikamentenmissbrauch oder Alkoholmissbrauch betreibt, um zum Beispiel seine Wahneingebungen zu dämpfen, was sehr viele Schizophrene machen, dann steigt das Risiko um das 14-fache, ein schweres Gewaltdelikt zu begehen.

Wie viele Amokläufer sind von einer Psychose betroffen?

Ein Drittel der erwachsenen Amokläufer leidet an einer Schizophrenie. Doch nicht jeder psychotische Mensch hat Gewalt- oder Tötungsfantasien.

Trier

Zeugen sagen im Prozess vor dem Landgericht Trier aus Der Trierer Amokfahrer "fuhr Leute um als wär das nichts"

Vor dem Landgericht Trier haben Zeugen der Trierer Amokfahrt - darunter ein Straßenreniger - am Mittwoch geschildert, wie der Geländewagen in die Fußgängerzone einbog und beschleunigte.

Was führt dazu, dass psychotische Menschen Gewalttaten wie einen Amoklauf begehen?

Einer solchen Tat können Wahnvorstellungen zugrunde liegen, die sich über Jahre oder auch kürzere Zeiträume entwickelt haben. Wenn sich ein Mensch in einer harmlosen Situation (z.B. in der Fußgängerzone) angegriffen fühlt, nimmt er eine Verteidigungshaltung ein. Die Täter wenden dann Gewalt an in der Überzeugung, sich vor einer vermeintlichen Gefahr zu verteidigen.

Andererseits kann eine Tat auch ideologisch motiviert sein, z.B. durch Rassismus. Hier ist zu unterscheiden zwischen Rechtsextremen ohne psychische Störung und psychotisch Kranken, die glauben, ihre radikalen Wahnvorstellungen in die Tat umsetzen zu müssen.  

Welche Störungen liegen einer erhöhten Gewaltbereitschaft noch zugrunde?

Auffälligkeiten der Persönlichkeit sind eine weitere häufige Ursache von Gewalttaten. Wenn sie schwer genug sind, spricht die Wissenschaft von einer Persönlichkeitsstörung. Hierzu zählt unter anderem der Narzissmus, der mit einer verminderten Kritikfähigkeit und einem hohen Aggressivitätspotenzial einhergeht.

Gewalttäter kennzeichnet jedoch auch eine starke Skrupellosigkeit, ein Merkmal der Persönlichkeitsstörung Psychopathie: Psychopathen fehlt die Fähigkeit zur Empathie – und gleichzeitig sind sie häufig narzisstisch veranlagt.

Trier

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Wann werden Gewalttäter als schuldunfähig eingestuft?

"Bei einer akuten Schizophrenie sind die Täter in der Mehrheit vermindert schuldfähig, teilweise auch schuldunfähig", so Dr. Nahlah Saimeh, Psychiaterin aus Düsseldorf.

Bei Persönlichkeitsstörungen hingegen werden sie von Richtern überwiegend für voll schuldfähig erklärt, weil das Ausmaß der Störung nicht schwerwiegend genug ist.

Hirnschädigungen, die zu psychisch auffälligem Verhalten führen, werden häufig gar nicht erkannt. Schuldunfähigen Tätern bleibt zwar das Gefängnis erspart. Gleichzeitig droht ihnen jedoch ein unabsehbar langer Aufenthalt im Maßregelvollzug, also Psychiatrien hinter Gittern.

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Wie lässt sich ein Amoklauf schon im Voraus verhindern?

Spätere Amokläufer machen im Vorfeld ihrer Tat häufig düstere Andeutungen. Wer bemerkt, dass ein Bekannter Sympathien für die Gewalttaten anderer äußert oder sich den Tod bestimmter Personen wünscht, sollte die Polizei informieren.

Wer unsicher ist, kann sich an die Hotline des Beratungsnetzwerks Amokprävention wenden.

Wichtig ist auch die rechtzeitige Behandlung von Menschen, die beispielsweise eine Psychose entwickeln. Ein Warnzeichen kann sein, wenn sich das Denken auf einmal verändert oder seltsam erscheint. Eine Reihe von Früherkennungszentren an Kliniken helfen bei der Abklärung. Eine Psychose kann z.B. durch die geeigneten Medikamente erfolgreich bekämpft werden.

Die Amokfahrt von Trier

Trier

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Im Prozess um die Amokfahrt von Trier hat die Verteidigung des Angeklagten am Donnerstagmorgen ihre Plädoyers verlesen. Der Angeklagte schweigt weiter.

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Trier

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Nach der tödlichen Messerattacke in Wiesloch ist der mutmaßliche Täter in die Psychiatrie nach Weinsberg gebracht worden.

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Der 18-Jährige, der im Januar bei einer Amoktat in Heidelberg eine Studentin erschoss, hatte laut Polizei keine Mittäter oder Helfer. Neue Details gibt es zu einem möglichen Motiv.

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Vor zehn Jahren tötete ein 17-Jähriger im schwäbischen Winnenden 15 Menschen. Die Tat hatte Folgen für seine Familie und das Waffenrecht in Deutschland.

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26.4.2002 Der Amoklauf von Erfurt

26.4.2002 | In keinem Jahrzehnt gab es in der Bundesrepublik so viele Amokläufe an Schulen und Bildungseinrichtungen wie in den Jahren zwischen 2000 und 2010. 8 solche Vorfälle gab es in dieser Zeit. Einer der ersten und zugleich der folgenreichste ist der Amoklauf am Gutenberg-Gymnasium von Erfurt am 26. April 2002. Ein 19-jähriger Schüler erschießt 12 Lehrkräfte, eine Sekretärin, zwei Schüler, einen Polizisten und tötet am Ende auch sich selbst. Der Fall sorgt für große Diskussion darüber, ob US-amerikanische Verhältnisse jetzt auch in Deutschland Einzug halten, aber auch über die Rolle von Videospielen. So berichtete SWR1 am Abend der Tat.

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Einst von den Nazis geächtet, ist die Sammlung Prinzhorn heute weltbekannt. Seit 100 Jahren zeigt sie Kunstwerke von psychisch kranken Menschen und ändert unseren Blick auf sie.

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Klimakrise, Pandemie, Krieg, Inflation: Trotz allem zeigen sich viele junge Menschen zuversichtlich. Woraus schöpfen sie ihre Resilienz? Von Johanne Burkhardt (SWR 2023) | Manuskript und mehr zur Sendung: http://swr.li/resilienz-jugend | Bei Fragen und Anregungen schreibt uns: wissen@swr2.de | Folgt uns auf Mastodon: https://ard.social/@SWR2Wissen | Interesse an Psychologie? Dann haben wir einen Podcast-Tipp für Euch: "Wie wir ticken – Euer Psychologie-Podcast". Wie gewinne ich die Kraft der Zuversicht? Verlieren wir die Fähigkeit zur Konzentration? Der neue Psychologie Podcast von SWR2 Wissen und Bayern 2 radioWissen gibt Euch Antworten. Wissenschaftlich fundiert und lebensnah nimmt Euch "Wie wir ticken" mit in die Welt der Psychologie. Konstruktiv und auf den Punkt. Immer mittwochs, exklusiv in der ARD Audiothek: https://www.ardaudiothek.de/sendung/wie-wir-ticken-euer-psychologie-podcast/94700346/

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Droht der Psychoanalyse das Aus? An Hochschulen und in Therapieverfahren wird sie zunehmend verdrängt. Aber es gibt sie noch, ihre Anhänger, die sie erhalten und weiterdenken. Von Beate Krol (SWR 2023) | Manuskript und mehr zur Sendung: http://swr.li/psychoanalyse-heute | Bei Fragen und Anregungen schreibt uns: wissen@swr2.de | Folgt uns auf Mastodon: https://ard.social/@SWR2Wissen | Interesse an Psychologie? Dann haben wir einen Podcast-Tipp für Euch: "Wie wir ticken – Euer Psychologie-Podcast". Wie gewinne ich die Kraft der Zuversicht? Verlieren wir die Fähigkeit zur Konzentration? Der neue Psychologie Podcast von SWR2 Wissen und Bayern 2 radioWissen gibt Euch Antworten. Wissenschaftlich fundiert und lebensnah nimmt Euch "Wie wir ticken" mit in die Welt der Psychologie. Konstruktiv und auf den Punkt. Immer mittwochs, exklusiv in der ARD Audiothek: https://www.ardaudiothek.de/sendung/wie-wir-ticken-euer-psychologie-podcast/94700346/

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Am vergangenen Freitag (08.09.2023) hat ein psychisch kranker Mann eine Frau erstochen. Er war aus dem Psychiatrischen Zentrum Nordbaden in Wiesloch entflohen und hatte in einem Kaufhaus ein Messer gestohlen. Diese Tat erinnert an weitere Fälle der jüngeren Vergangenheit, bei denen psychisch kranke Menschen schwere Gewalttaten bis hin zum Mord begehen. Sie sind dann in der Regel nicht oder vermindert schuldfähig.
Aus Anlass der Tat in Wiesloch hier noch einmal unsere Folge über seelische Krankheiten und Gewalt vom Mai 2022.

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