Ralf Rothmann – Hotel der Schlaflosen (Foto: Pressestelle, © Heike Steinweg/Suhrkamp Verlag)

Buch der Woche vom 12.10.2020 | Corona-Bibliothek

Ralf Rothmann – Hotel der Schlaflosen

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AUTOR/IN
Carsten Otte

Ein alter Hochschullehrer versteht während einer Autopanne in der Wüste endlich die Liebe. Eine todkranke Musikerin fährt mit dem Taxi durchs Berlin ihrer Kindheit. Und in einem Keller, in einer gar nicht so weit entfernten Vergangenheit, bringt ein Henker alle um, die auf Stalins Todeslisten stehen.

In Ralf Rothmanns neuen Erzählungen geht es immer um große Themen. Um existentielle Ängste, um Leben und Tod, um die Liebe und die Freiheit. Sprachlich auf höchstem Niveau und mit präzisem Spannungsbogen zeigt hier einer der wichtigsten deutschen Gegenwartsautoren, dass er die kurze Form genauso gut beherrscht wie die lange.

Diese Erzählungen erschüttern, berühren und bleiben lange im Kopf. Großartig!

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„Meine Sprache hat nur dann Schwerkraft, wenn ich aus meinen Erfahrungen spreche“, hat Ralf Rothmann einmal gesagt.

Immer wieder betont der 1953 geborene und mit vielen Preisen bedachte Schriftsteller, dass die eigene Biografie eine wichtige emotionale und ästhetische Grundierung seiner Literatur bildet.

Autor Rolf Rothmann (Foto: Pressestelle, © Heike Steinweg/Suhrkamp Verlag)

Die bunten Lebens- und Arbeitswelten Rothmanns tauchen in seinen Erzählungen auf

Tatsächlich kann dieser Autor auf einen Erfahrungsschatz zurückgreifen, der einmalig ist in der deutschen Literaturlandschaft: Nach dem Besuch der Handelsschule machte er eine Lehre als Maurer, später schlug er sich mit verschiedenen Jobs durchs Leben.

Er arbeitete als Fahrer, Koch, Drucker und Krankenpfleger. Und diese Lebens- und Arbeitswelten tauchen auch in Rothmanns Romanen und Erzählungen auf – so auch in seinem neuen Geschichtenband „Hotel der Schlaflosen“.

Sprachliche und dramaturgische Präzision prägen die Prosaerzählungen

Erzählungen sind für Ralf Rothmann weder Fingerübungen noch literarische Pausenfüller zwischen den großen Romanen. Dieser Schriftsteller beherrscht die kurze Prosastrecke wie kaum ein deutscher Autor.

Auch im „Hotel der Schlaflosen“ beeindruckt Rothmann mit sprachlicher und dramaturgischer Präzision, ohne die Figuren durch eine allzu gewitzte Erzählökonomie zu verraten.

Die Figuren werden von Ängsten heimgesucht

Meist stehen die Charaktere am Abgrund, weil sie zum Beispiel sterbenskrank sind wie die Protagonistin in der ersten Geschichte. Eine Musikerin fährt nach einem Konzert noch einmal im Taxi durch das Berlin ihrer Kindheit und erinnert sich an die skurrile Situation, als sie auf die Diagnose wartete.

Schließlich sehnt sie sich nach einem Ende des Leidens:

Ein Hund bellte in der Toreinfahrt, der lohfarbene womöglich, und sie wunderte sich, wie leicht er war, dieser eine Schritt über alles hinaus. Sie sah ihren Schatten mit unglaublicher Geschwindigkeit die Wand hinabgleiten, ihren wild flatternden, jäh über den Kopf in die Höhe gerissenen Mantel, aus dem das Kleingeld fiel, (…).

Rothmanns sanft-schaurige Poesieprosa handelt vom Aberwitz des Daseins und von Ängsten, die selbst hartgesottene Charaktere heimsuchen.

Es geht in diesen Geschichten immer um alles: um Leben und Tod, verfehlte Liebe und der Sehnsucht nach Freiheit. Aber auch um Verantwortung für Taten, die alle Menschlichkeit in Fragen stellen.

Die Charaktere in Rothmanns Erzählungen sind unglaublich vielseitig

Dabei entwickelt Rothmann so unterschiedliche Figuren in so verschiedenen Settings, dass man kaum glauben kann, es mit nur einem Schriftsteller zu tun zu haben. Einmal sind wir auf einem Pferdehof, mal auf einer Baustelle, mal unter Bestattern.

Ein Kind wird mit dem Teppichklopfer verhauen, dann wieder lässt sich eine Anhalterin nicht davon abbringen, durchs wilde Mexiko zu trampen. Ich-Erzählungen wechseln sich mit Texten in der dritten Person ab.

In den Erzählungen spielt die Stimmung eine entscheidende Rolle

Jedes Stück ist von einer sehr eigenen, mal melancholischen, dann erstaunlich überdrehten Stimmung geprägt. Waren wir in der Eröffnungsgeschichte noch im Hier und Jetzt, spielt die Titelerzählung fast ein Jahrhundert früher in Moskau, in der Zeit der großen Säuberungen.

Im Keller eines ehemaligen Hotels waltet ein Henker seines Amtes. Er bringt alle um, die auf irgendwelchen Listen Stalins stehen und nun in diesem „Hotel der Schlaflosen“ auf ihre Hinrichtung warten.

Eine Glühbirne hing über dem Abfluss und ein zusammengerollter Schlauch an der Wand, und viele kriegten Flatulenzen, wenn sie das sahen, oder hielten sich zitternd an ihrem Hemdkragen fest. Nur, die selbst schon jemanden umgelegt hatten, die zitterten in der Regel nicht. Wirklich panisch wurde aber selten jemand – nicht nach all den Verhören mit Sonderbehandlung.

Rothmann hält den Menschen den Spiegel der Tierwelt vor

In gewisser Weise sind alle Geschichten Horrorstorys, wobei das Grauen mal real, dann wieder hyperreal dargestellt wird. Die Gewaltverhältnisse unter den Menschen zeigen sich wie so oft bei Rothmann im Spiegel der Tierwelt.

In der Erzählung „Admiral Frost“ geht es um einen heißblütigen Hengst, der eine Stute decken soll, und dieser Akt wird auf eine Weise beschrieben, die man nicht mehr vergessen wird.

Erst jetzt, während er aufstieg, als gäbe es die Ketten nicht, sah man wie groß und schwer der Admiral tatsächlich war: im wahrsten Sinn ein Muskelberg, glänzend im Futter. Mit zwei ruckenden Bewegungen rutschte er über die Stute, die leicht einknickte in den Knien, sich aber gleich wieder fasste und das lange Glied ohne einen Laut in sich aufnahm (…), und nach wenigen gewaltigen, seltsam krummbeinigen Stößen, die den schweren Zaun vor der Brust der Stute knarren ließen, stand er auch schon wieder hinter ihr, leckte sich das Maul und starrte ein bisschen dösig ins Leere.

Die Geschichten sind gerade wegen Rothmanns biographischen Einflüssen berührend

Beobachtet wird die Szene, die den Auftakt für ein todbringendes Ausrasten des mächtigen Tiers darstellt, von der Tochter eines Pferdewirts, der sich von seiner Frau getrennt hat und befürchten muss, bald auch seine Ranch zu verlieren.

Die große Faszination fürs Reiten jedenfalls zertrümmert diese Geschichte, die ganz nebenbei auch erstaunliche Einblicke in das skurrile Milieu der Pferdefans bietet.

Erschütternd und berührend sind Rothmanns Erzählungen, die mit wichtigen biographischen Erfahrungswelten und Werkphasen des Autors in Verbindung stehen, mit den Ruhr-Romanen, mit den Berlin-Büchern und Kriegsgeschichten.

Die Motive der einzelnen Erzählungen passen perfekt zusammen

Das „Hotel der Schlaflosen“ enthält tatsächlich Meisterstücke kurzer Prosa, auch weil die einzelnen Stücke auf der Ebene der Motive und Metaphern auf bedrohliche und zugleich kaum merkliche Weise miteinander kommunizieren.

Schlaflosigkeit und Angstzustände prägen die Lebensläufe. Die Rollen vor allem der männlichen Figuren wirken wie aus der Zeit gefallen und dabei schrecklich modern.

Selbst den dunkelsten Szenen wohnt Hoffnung inne

Verprügelte und mordende Typen, enttäuschte Träumer und revoltierende Statisten. Wann endlich, so fragen diese Geschichten, erfinden wir ein neues Miteinander?

Der bittere Konkurrenzkampf prägt auch die weiblichen Rollenmuster, die einen Gendergap nicht erkennen lassen. Selbst den rabiatesten Szenen aber wohnt, sozusagen als Antwort auf die allgegenwärtige Angst, doch jene Hoffnung inne, dass es anders laufen könne, dass die Gewalt eben kein Naturgesetz ist.

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Carsten Otte