Buchkritik

Lutz Seiler – schrift für blinde riesen

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AUTOR/IN
Carsten Otte

Lutz Seilers Gedichtband „schrift für blinde riesen“ enthält überraschende, komplexe und dann wieder sehr anschauliche Lyrik, die Vergangenes im Gegenwärtigen aufscheinen lässt, die das Banale in kunstvolle Bildsprache verwandelt und die auch nicht vor hymnischen Beschwörungsformeln zurückschreckt. Ein rundum gelungener Gedichtband, auch weil Form und Inhalt kongenial zusammenkommen.

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Auch Lutz Seiler beschäftigt sich mit den Folgen der Pandemie

Derzeit erscheinen mehr Romane, deren Handlung in der Pandemie angesiedelt sind, etwa Daniela Kriens „Der Brand“ oder John von Düffels „Die Wütenden und die Schuldigen“.

Auch Lutz Seiler hat sich immer schon, und zwar in seiner Lyrik und Prosa gleichermaßen, für die kleinen Erschütterungen, für die biografischen Verschiebungen in politisch unruhigen Zeiten interessiert. So ist es kein Wunder, dass er in seinem neuen Gedichtband „schrift für blinde riesen“ auf die aberwitzigen Erfahrungen in der Pandemie eingeht, und zwar mit dem fast unscheinbaren Gedicht, das die Datumsangabe „29. März 2020“ als Titel trägt und an einen völlig veränderten, in neuen Routinen erstarrten Alltag schon eine Woche nach Beginn des ersten Lockdowns erinnert.

erst den teller fertig machen dann
das küchenfenster fest verschließen & hernach
den topf abgießen –
dampf dampf dampf
dampf der welt & untergang

Die Szene handelt vermutlich vom Nudelkochen, vom dampfenden Wasser im Spülbecken, das im Grunde nicht der Rede wert wäre, wenn nicht das feste Verschließen des Küchenfensters erwähnt würde, der private Schutzraum, in dem gleichwohl das Gefühl nicht schwindet, jene kleinsten Tröpfchen, die berüchtigten Aerosole, können nicht nur harmlos wie im Kochwasserdampf daherkommen, sondern eben auch als tödlicher Virennebel den Untergang bringen.

Die „virulenten“ Themen der Zeit werden in wenigen Motivkombinationen eingefangen

An diesem Beispiel lässt sich gut ablesen, wie der Dichter arbeitet, wie er dem Grotesken im Alltag nachspürt, wie er die im wahrsten Sinne des Wortes „virulenten“ Themen der Zeit in wenigen Motivkombinationen einfängt.

Nicht immer lassen sich die Analogien und Verweise in seiner Lyrik leicht nachvollziehen. Manchmal müssen die Zeilen mehrfach gelesen werden, die immer stark rhythmisiert und von einer wuchtigen Bildsprache geprägt sind. Zuweilen hilft der Anmerkungsapparat, der dann über seltsame Orte in Gera aufklärt, zum Beispiel über den sogenannten Knochenpark, der einst Friedhof war und später geheime Ecken für Jugendliche bot.

gleich nach der schule, eigentlich
an jedem stillen nachmittag
waren wir im knochenpark. Klee
& sauerampfer kauten wir, ein
meinungsdeutsch der luft & saugten
lang am mark der süßen spitzen. Ich
hatte noch nicht aufgeraucht
& küsste c. – es war schon spät.

Seiler schlägt einen Bogen vom Knochenpark in Gera zu Kubricks „2001 – Odyssee im Weltraum“

Das Knochenmotiv hat Lutz Seiler schon im ersten Gedicht des Bandes eingeführt. Mit „morgenrot & knochenaufgänge“ sind drei Strophen überschrieben, die Stanley Kubricks berühmten Einstieg in seinen Film „2001 – Odyssee im Weltraum“ aufgreifen, ohne die Szene explizit zu erwähnen.

Vom Affenmenschen ist die Rede, der im hohen Savannengras nichts sehen kann, um dann mit dem Griff zum Knochen eines toten Tiers einen wichtigen Entwicklungsschritt macht. Dass die mit dem Werkzeug verlängerte Hand den Artgenossen erst Gewalt antut, um Jahrtausende später zur „schreibhand“ zu werden, deutet Seiler nur mit einem „hörbaren knacken“ an.

Immerhin, die Kultur ist in der Welt, der zivilisatorische Fortschritt nicht mehr aufzuhalten, und so handeln die folgenden Gedichte im ersten Zyklus auch vom Lernen und Interpretieren, vom Dichten und der instrumentellen Vernunft, die unter widrigen Bedingungen zurückschlägt in Barbarei oder die einfach sympathisch verwildert auftritt.

„langsam, aber sicher“ war das lieblingswort
unserers lehrers in astronomie. sein name
war klotz, herr klotz. Ihm
wuchsen die haare wie kleine
bohrer aus den ohren, ein
spiral-phänomen, das jedes weltall-wissen
in den schatten stellte

Demütig ist der Dichter gegenüber der Sprache, ohne sich irgendwelchen Regeln zu unterwerfen. Vielleicht hat sich Seiler auch deshalb für Kleinschreibung und freie Verwendung der Satzzeichen entschieden.

Im zweiten Zyklus steht die schöne, beruhigende und beschädigte Natur im Mittelpunkt

Dass nach Gedichten, die Prometheus-Bilder durchspielen und Themen der Aufklärung behandeln, im zweiten Zyklus die schöne, beruhigende und beschädigte Natur im Mittelpunkt steht, erscheint nur folgerichtig. Beim Waldgang spürt das lyrische Ich eine „fein-verwurzelung der augen“, und zwar „am rostboden der lichtung“.

Naturmotive sind bei Seiler eng verflochten mit persönlichen Erinnerungen an Familie und Kindheit, an die Zeit im Grundwehrdienst der DRR, an seine Erfahrungen in einer Maurerlehre, an Erlebnisse im Prenzlauer Berg in Nachwende-Jahren, an ersten literarischen Versuchen und dem intensiven Glück flüchtiger Liebe.

Historische und aktuelle Szenen lässt Seiler ineinander fließen

Wer Seilers preisgekrönte Romane „Kruso“ und „Stern 111“ gelesen hat, wird in seinen Gedichten durchaus bekannte Motive entdecken. Auch das Verfahren, historische und aktuelle Szenen ineinander fließen zu lassen, wendet der Autor in seiner Prosa und Poesie gleichermaßen an.

nichts geschieht hier ohne dich.
der wald kann warten
hinterm haus.
am abend kommen die tiere
steif aus der vergangenheit
& küssen das fenster am bad.
aus der kindheit tauchen tauben auf
& und wollen reden.
warm, vereinzelt, zögerlich
beginnt das nächste beben.

In der Lyrik ist Seiler ein Erzähler, der sich auf Reduktion und Konzentration versteht.

Von der Prosa Lutz Seilers wird oft gesagt, sie beeindrucke durch den „lyrischen Tonfall“. Doch es gab auch vereinzelt Kritik, dass seine etwas überambitionierten Sprachspiele die Romane überfrachten.

In der Lyrik allerdings ist dieser Schriftsteller ein Erzähler, der sich auf Reduktion und Konzentration versteht. Allein der Titel „schrift für blinde riesen“ ist ein wundersam präzises Bildkunstwerk, das sich erst im Gedicht „heimwärts, im regen“ auflöst. Gemeint sind nämlich vereinzelte Kieselsteine auf dem Boden, die, vom Wasser gewaschen und in Konstellationen gebracht, wie Schriftzeichen wirken, wie Braille für blinde Riesen.

Der Mensch, von seiner Größe und vermeintlichem Allwissen berauscht, wird hier ganz nebenbei zum Zwerg geschrumpft, der eben doch nicht alle Zusammenhänge begreift. So wie die Knochen tauchen die blinden Riesen immer wieder in dem Gedichtband auf, der die Geschichte der Lyrik manchmal streift, Annette von Droste-Hülshoff noch namentlich erwähnt, das Dichten einmal als „tote Versfabrik“ beschreibt und zwischendurch die Frage stellt: „was ist noch lesbar“?

Die Antwort gibt Lutz Seiler in und mit seiner immer wieder überraschenden Lyrik, die Vergangenes im Gegenwärtigen aufscheinen lässt, die das Banale in erhabene Sprachbilder verwandelt und die auch nicht vor hymnischen Beschwörungsformeln zurückschreckt.

Auch in der vermeintlich leicht zu lesenden Strophe lauert der unerwartete Zeilensprung

Manche Strophe möchte man Reisenden auf den Weg geben, die sich von den Zumutungen des Alltags befreien wollen. Doch auch in der vermeintlich leicht zu lesenden Strophe lauert der unerwartete Zeilensprung, der an die altbekannten Verunsicherungen erinnert. Die „schrift für blinde riesen“ ist auch deshalb ein so rundum gelungener Gedichtband, weil darin Form und Inhalt kongenial zusammenkommen. 

weil jetzt nichts drängt, nichts
droht: alles ist weit, zum sehen frei
gegeben.
einmal im leben.

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Carsten Otte