Buchkritik

Tomas Espedal – Lieben

Stand
AUTOR/IN
Anja Höfer

Wie fühlt sich das Leben an, wenn man sich selbst eine Frist setzt? Noch ein Jahr gibt sich „Ich“ in Tomas Espedals Roman „Lieben“. Ein kleines Meisterwerk über die Lebens-Dialektik von Heiterkeit und Melancholie.

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Im Grunde, hat Tomas Espedal einmal gesagt, schreibe er mit allen Teilen seines Zyklus‘ an einem einzigen langen Roman - nur die Formen, die Genres wechseln: Es gibt das Tagebuch und das Langgedicht, Kurzgeschichten und den Reisebericht, und diesen letzten Teil nun nennt er Essay. Ein sehr elegischer Essay, könnte man hinzufügen. Es geht immerhin um den eigenen, geplanten Tod.

Ein Essay über den eigenen Tod

Das radikal autobiographische Erzählen aus der Ich-Perspektive samt Nennung realer Namen hat Espedal mit seinem norwegischen Freund und Kollegen Karl-Ove Knausgard gemeinsam - nur sind Espedals Bücher viel kürzer, verdichteter und experimenteller als die des weit ausschweifenden und eher chronologisch berichtenden Knausgard.

In allen zehn Bänden von Espedals Zyklus kehren die gleichen Figuren und Motive wieder. Auch in „Lieben“ geht es um den Tod seiner Mutter und um den schmerzvollen Tod seiner Frau, um das Verlassenwerden durch eine junge Geliebte, um die ständige Selbstsuche und das Schreiben als Akt der Selbstvergewisserung.

Das letzte Lebensjahr

Diesmal werden alle diese Themen um die Dimension des eigenen Todes erweitert. Der Erzähler, wie Espedal Ende 50, gibt sich noch ein Jahr:

Ich wollte den guten Tod sterben. Nicht denjenigen, der jählings kommt oder als Unfall oder als Krankheit, nicht denjenigen, den man verdrängt oder verleugnet, sondern den Tod, dem man entgegen geht, den man wählt. Ich wollte sterben, während er noch voller Lebenskraft und geistiger Frische war, er wollte gern an einem Tag sterben, an dem er zufrieden war und es ihm gut ging. (…) Er hatte keine Pläne und wollte das Jahr entgegennehmen, wie es auf ihn zukam, als Geschenk.

Die Hauptfigur trägt das Personalpronomen „Ich“ wie einen Namen. Erzählt wird von ihm in der dritten Person. Ein interessanter Effekt, da Espedal sich zwar als Person ins Spiel bringt, sich jedoch zugleich von sich selbst distanziert. Die Grenzen zwischen Autobiographie und Fiktion werden so permanent verwischt. „Ich“, der auch Jahre nach der Trennung von seiner Geliebten nicht wirklich über den Verlust hinwegkommt, gibt sich noch ein letztes Jahr: ein Jahr, in dem dann doch noch erstaunlich viel passiert.

Denn es ist ja ein bekanntes Phänomen: Wer die Endlichkeit konkret vor Augen hat, für den verdichtet sich das Leben plötzlich noch einmal. Genau das passiert „Ich“ in „Lieben“: Nach einigen wunderbaren Tagen mit Freunden in einem Haus an der Loire beschließt Ich, von Blois zu Fuß nach Paris zurückzugehen - eine Woche lang.

Zu ihm gesellt sich aus der Freundesgruppe eine Frau namens Aka, und es beginnt eine leichte, schöne Liebesgeschichte zwischen den beiden. Von seinem Selbstmordplan weiß Aka freilich nichts. In Norwegen begegnen sich die beiden wieder; Aka wird schwanger. Aber Ich hält an seinem Plan fest, sich im kommenden Mai das Leben zu nehmen.

Es wuchs in ihr heran, dieses vaterlose Kind. Es würde zugleich mit Ichs Tod geboren werden. (…) Das Kind würde Ichs Tod als Geburtstagsgeschenk bekommen. War das ein Geschenk? Die Abwesenheit des Vaters, ja, das konnte ein Geschenk sein. Eine Befreiung. Ich wäre bestens ohne seinen Vater zurechtgekommen.

Erinnerungen an die eigene Kindheit, an den Verlust der Eltern, alles kommt in diesem letzten, intensiven und schönen Jahr zurück. Die kurze verbleibende Zeitspanne erzwingt viele Rückblicke, auch an die große Liebe Vali, die ihn einst verließ - und an das Dauerdelirium danach, an dem er fast zu Grunde ging.

Dieser zehnte und letzte Band des Zyklus hat eine ähnliche dunkle Strahlkraft wie seine Vorgänger - viel Hoffnung ist nicht aus diesen Zeilen zu ziehen. Aber wie Espedals „Ich“ mit dem Wissen ums eigene Ende den Blick noch einmal auf die Schönheiten und die großen, guten Momente im Leben richtet, das ist meisterhaft und anrührend.

Ein Tag mit zwei Freunden. Ein Tag mit Büchern. Ein Spaziertag. Er gab den Tagen viele Namen - Der perfekte Tag: ein Tag ohne Kümmernisse! Ein ganzer Tag mit einem Freund. Ein Tag, den ich mit Dir verbrachte.“

Während Karl-Ove Knausgard sich in unendlich detaillierten Beschreibungen von Alltagsverrichtungen wie dem Zubereiten eines Kaffes ergehen kann, packt Tomas Espedal immer das große Ganze an. Bei ihm geht es buchstäblich in jeder Zeile um Leben und Tod. Und es ist beeindruckend, wie er sein eigenes Leben als Material nutzt, um universelle, große Erfahrungen und Gefühle zu beschreiben. Es ist sein Leben, aber es ist immer auch irgendwie unser aller Leben.

Heiterkeit und tiefe Melancholie verbinden sich

Der grandiose Schluss dieses kurzen Romans darf hier nicht verraten werden. Nur so viel: Man liest ihn atemlos. Von Goethe stammt das poetische Bild des Regenbogens auf dunklem Grund: in den schönsten Farben strahlt der Regenbogen nur, wenn er sich von einem besonders düsteren Wolkenhintergrund abhebt.

Diese Lebens-Dialektik von Heiterkeit und tiefer Melancholie hat Tomas Espedal in eine große kleine Erzählung gebracht.

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AUTOR/IN
Anja Höfer