Buchkritik

Jenny Erpenbeck – Kairos

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AUTOR/IN
Kristine Harthauer

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Woran erkennt man den glücklichen Augenblick?

Der Gott Kairos spielt in der griechischen Mythologie nur eine Nebenrolle. Er ist nicht besonders populär, sein Bild findet man nur auf wenigen Darstellungen. Ein bisschen schade ist das, aber irgendwie passt dieses Schicksal auch ganz gut zu ihm: Kairos ist der Gott des glücklichen Augenblicks oder des günstigen Zeitpunkts. Vorne trägt er eine goldene Locke, nur an der kann man ihn festhalten. Am Hinterkopf ist er kahl und wenn er einmal an einem vorübergezogen ist, ist der glückliche Augenblick, ist der günstige Zeitpunkt vorbei.

Nach diesem Gott hat Jenny Erpenbeck ihren Roman benannt. Die beiden Hauptfiguren Katharina und Hans erleben einen solchen Augenblick: Beide treffen sich in einem Bus, blicken sich in die Augen und sind voneinander verzaubert. War das schon unser Kairos-Moment?, wird sich Katharina später fragen. Denn sie schlittert in eine Beziehung hinein, aus der sie als eine andere herausgehen wird:

Es geht so lange, wie du willst, sagt er. Sie nickt. Wenn sie ihn nur sehen kann. So oft und lang wie möglich. Alles andere ist ihr egal. Von jetzt an, denkt er, liegt die Verantwortung, dass es weitergeht, allein bei ihr. Er muss sich vor sich selbst schützen.

Aber muss er das wirklich? 34 Jahre Altersunterschied trennen Hans und Katharina. Er ist Anfang 50, arbeitet beim Rundfunk und als Schriftsteller. Lebt mit seiner Frau und seinem Sohn in einer großzügigen Altbauwohnung in Ost-Berlin. Katharina ist 19 Jahre jung, macht gerade eine Ausbildung und wohnt bei ihrer Mutter.

Erst viel später wird Katharina seine Beweggründe verstehen

Ganz zu Beginn ihres Romans lässt Jenny Erpenbeck eine erwachsene Katharina in alten Briefen, Kalendern und Tagebüchern stöbern, die sie nach Hans’ Tod erhält. Ganz zum Schluss des Romans wird sie in seinen Stasi-Akten lesen und erst dann ganz verstehen, wer er war und wer sie für ihn gewesen ist.

Von der Zeit dazwischen erzählt der Großteil des Romans. Katharina und Hans treffen sich im Sommer 1986 in Ost-Berlin. Sechs Jahre lang kommen sie nicht voneinander los, während sich, wie ein Hintergrundrauschen, die DDR im Niedergang befindet.

Ein glücklicher Moment ist es, als Hans und Katharina sich begegnen, aber ist es eine glückliche Zeit, die sie miteinander haben?

Für die junge Frau ist Liebe bedingungslose Hingabe

Katharina gibt alles von sich auf, nur um eins mit ihrem Geliebten werden zu können. Sie verschenkt ihre Schallplatten, die Hans kitschig findet: das Mendelssohn-Violinkonzert und die Klavierstücke von Rachmaninoff. Stattdessen empfiehlt er ihr Mozart und Bach. Sie ändert auf seinen Vorschlag hin ihren Studienwunsch und sie lässt sich auf seine sexuellen Vorlieben ein. Hans fesselt sie ans Bett und lässt sie erstmal liegen:

Was hast du draußen gemacht? Ich habe in der Küche gesessen, eine Zigarette geraucht und gewusst, dass du hier bist. Gewusst, dass ich hier bin?“, sagt Katharina und schüttelt den Kopf. Gewusst, dass ich jederzeit zurückkommen kann und dich ansehen. Aber du kannst mich doch immer ansehen. Ja, aber nicht so, sagte er - keine Erregung ist so groß wie die über das, was möglich wäre.

Ist das Erleben eines glücklichen Augenblicks also weniger wertvoll als die reine Vorstellung davon? Katharina und Hans sind nicht allein Hauptfiguren eines Romans. In ihrem Verhältnis spiegelt sich die Geschichte Deutschlands von 1933 bis zur Wiedervereinigung. 1933 - das ist Hans’ Geburtsjahr. Sein Vater war ein hohes Tier in der NS-Maschinerie, der nach 1945 eine Anstellung als Professor bekommen hat. Hans wuchs als begeisterter kleiner Nazi auf, wie er sagt. Aber weil ihm im Gegensatz zu seinem Vater „die Toten nicht egal“ seien, wanderte er in die DDR aus. Dort arbeitete er als Spitzel für die Stasi, bis ihn die Biermann-Ausbürgerung umdenken lässt.

Von seiner Vergangenheit als Inoffizieller Mitarbeiter weiß Katharina nichts, aber die Nachwirkungen davon erlebt sie am eigenen Leib.

Eine Beziehung mit großem Machtgefälle

Das Verhältnis kippt, nachdem Katharina Hans betrogen hat. Hans, der niemals seine Ehe aufgeben würde, sich aber doch immer eine Geliebte hält, dieser Hans gesteht Katharina nicht die Freiheit ein, die er sich selber nimmt. Die Folgen für sie sind fatal:

Wenn du mir gegenüber nicht bis auf den Grund deiner Seele ehrlich bist, hat unsere Liebe nicht die geringste Chance. Unsere Liebe, das ist, dass sie er ist und er ist sie. […] Ich kann diese Arbeit nur machen, wenn du rückhaltlos ehrlich bist: Deine Tagebücher offenlegst, deinen Kalender, alle Notizen und Briefe.

Katharina gibt ihm alles, lässt sich von ihm manipulieren und formen. Und kann sich doch nicht von ihm lösen. Aus zwei Herzen soll eines werden, das ist das, was sie sich wünscht - die Folgen nimmt sie aufopferungsvoll in Kauf.

Die politischen Umwälzungen interessieren Katharina wenig

Was sie im Privaten erreichen will, ist ihr jedoch im Politischen und Gesellschaftlichen suspekt. Die Wiedervereinigung verschläft sie, das Willkommens-Geld für DDR-Bürger findet sie „würdelos“. Das geeinte Berlin ist für sie kein Ganzes, es ist ein Körper mit einem „doppelten Herzschlag“.

Erst war der Mauerfall ein süßer Traum, dann, als ihr Kairos-Moment kam, griffen die DDR-Bürger beherzt zu und rissen die Mauer nieder. Aber die Zeit danach, die erleben Hans und Katharina als wenig glücklich. Natürlich wird Hans sie verlassen und sie wird zurückbleiben, allein, mit den Trümmern in ihr.

„Ich war dein Spiegelbild“, wird Katharina erkennen, als Hans schon längst tot ist. Der ältere Mann, der Ex-Nazi und spätere Stasi-Spitzel hat sich hingegen nie wirklich für das jüngere DDR-Mädchen interessiert.

Die Liebesgeschichte ist auch eine kritische Allegorie auf die Wiedervereinigung Deutschlands

Die Geschichte der Wiedervereinigung als historischen Glücksmoment stellt Jenny Erpenbeck mit ihrem Roman in Frage. Sie tut das mit einer schmerz- und gewaltvollen Geschichte, die viel Symbolik und amourösen Pathos aushalten muss. Mehr noch: In einer perversen Liebesgeschichte, im Machtgefälle zwischen einem alten Mann und einer jungen Frau steckt bei Jenny Erpenbeck zugleich eine Klage über die deutsche Wiedervereinigung.

So wie Katharina sich von Hans hat bezaubern lassen, so auch die DDR vom glitzernden Westen. Und so wie Hans Katharina vereinnahmt hat, so hat auch der Westen die DDR geschluckt.

Aus der Sicht zweier privilegierter DDR-Intellektueller erzählt, ist diese historische Metaphorik allerdings wenig dringlich. Die Erkenntnismomente, die sie bietet, sind Momente, die auch wieder vorüberziehen.

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Kristine Harthauer