Buchkritik

Dana Grigorcea – Das Gewicht eines Vogels beim Fliegen

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AUTOR/IN
Carsten Otte

Ein Roman wie ein Tanz: Dana Grigorcea erzählt in „Das Gewicht eines Vogels beim Fliegen“ klug und unterhaltsam vom Wesen der Kunst.

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So unterschiedlich die Bücher auch sein mögen, die Dana Grigorcea geschrieben hat, ihre belletristischen Werke eint die erstaunliche Fabulierlust einer Schriftstellerin, die selbst bei ernsten Themen ein Gespür für die humoristische Fallhöhe zeigt. Die rumänisch-schweizerische Autorin weiß, mit historischen Stoffen umzugehen, spielt mit literarischen Vorbildern ohne akademischem Dünkel und greift in ihrer Literatur grundsätzliche Fragen zur Ästhetik und Politik auf.

Und das Erstaunliche: Grigorcea schafft es, bei diesem Anspruch nicht nur originelle, sondern immer auch unterhaltsame Prosa zu schreiben. So auch in ihrem aktuellen Roman mit dem seltsamen Titel „Das Gewicht eines Vogels beim Fliegen“. Die ersten Kapitel des Buchs erklären nicht viel, verstärken vielmehr das Gefühl, keinen festen Erzählboden unter den Füßen zu haben, als sollten nicht nur die Figuren, sondern auch das lesende Publikum herumgewirbelt werden: Ein Text wie ein wilder Tanz, auf unterschiedlichem Parkett, in verschiedenen Epochen.

Zunächst tritt eine exaltierte Dame namens Alba Fantoni im mondänen Chiffonkleid auf, die mit ihrem Verlobten Freddie durch den Saal fegt. Das Grammophon gibt den Takt vor, in dem sich die Festgesellschaft bewegt: Nach einem Tango folgt ein grotesker Truthahn-Tanz. Dann eine kurze Pause. Ein Geschenk wird geöffnet. Die Anwesenden starren ein kurioses Kunstwerk an:

Es ist Alba Fantoni, zur zierlichen Statuette versteinert, in dunkel glänzendem Onyx. Sie steht auf Zehenspitzen, die Arme dicht am Körper, das Köpfchen im Nacken, einem emporschießenden Vogel gleich. Ihr Mund ist aufgerissen, zum Himmel hin, als würde sie verzückt rufen: `Damenwahl!´

Ein Text wie ein Tanz

Nach dem rasanten Romaneinstieg folgt ein Szenenwechsel. Wir befinden uns in der Gegenwart, es gibt Mobilfunk. Die Schriftstellerin Dora, ihr Sohn Loris und das Kindermädchen Macedonia reisen mit dem Zug nach Santa Margherita in Ligurien. In dem schönen Badeort will Dora die Geschichte des Bildhauers Constantin Avis niederschreiben, der einst nicht nur die geheimnisvolle Vogel-Statuette, sondern auch andere Werke geschaffen hat, die für Diskussionen sorgten.

Für Dora ist dieser Mann eine passende Projektionsfläche, scheint er doch ein freieres, zumindest aber ein ungebundenes Künstlerleben zu führen. Kaum hat sich Dora im vornehmen Hotel eingerichtet, vermeldet ihr Handy eine Nachricht vom geliebten Regis. Doch die Autorin will sich nicht stören lassen, notfalls „das Telefon im Zimmersafe einsperren“.

Nur gelegentlich würde sie an ihn denken, beim Schreiben, sehnsüchtig.

Zollfreie Kunst oder kostspielige Manufakturware?

Mit dem Sehnsuchtsmotiv geht die Reise wieder zurück in die Roaring Twenties. Der in Paris lebende Künstler Constantin Avis fährt 1926 per Schiff in die Vereinigten Staaten und bekommt es noch im Hafen mit der Zollbürokratie zu tun. Die Kontrolleure wollen einen Bronzevogel in seinem Gepäck nicht als Kunstwerk anerkennen.

Sie halten das Objekt für „Manufakturware“, die es zu verzollen gilt. Das Argument der Beamten: Die behauptete Ähnlichkeit mit einem Vogel sei nicht erkennbar, es handele sich lediglich um ein Stück Metall. Der Künstler erklärt zwar, er habe den „Flug eines Vogels“ dargestellt, aber auf solche Spitzfindigkeiten wollen sich die Hüter des Gesetzes nicht einlassen.

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Diese Schriftstellerin erfindet sich mit jedem Buch neu. Was alle Bücher eint: Eine erstaunliche Fabulierlust und selbst bei ernsten Themen ein Gespür für die humoristische Fallhöhe.

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Die Bronzefigur wird so lange beschlagnahmt, bis die Zoll-Gebühren gezahlt sind. Womit wir schon bei einem Kernthema des Romans sind: Worin besteht das Wesen der Kunst? Wo verläuft die Grenze zwischen Gegenständen des Alltags und Objekten, die nach ästhetischen Prinzipien geformt sind?

Der New Yorker Fall ist historisch verbrieft und erinnert an den rumänisch-französischen Bildhauer Constantin Brâncuși, der einen ähnlichen Streit mit den amerikanischen Zollbehörden gerichtlich klären ließ. Die Geschichte des Romans aber zielt noch auf ganz andere Merkmale und Motive der Kunst ab. Womit Grigorceas Roman wieder in die Welt der Schriftstellerin springt.

Das Schreiben ging ihr leicht von der Hand. Wörter flogen ihr zu, Sätze, Rhythmen. Sie schrieb sich in einen Rausch – ein schneller Tanz, in heimlicher Freude über ihre Allmacht, jeden Akkord und auch jeden Schritt in diesem Raum vorherbestimmt zu haben.

Schreiben und Mutterschaft

Dora genießt die literarische und lebensweltliche Freiheit, auch weil sie um die harte Konkurrenz von Mutterschaft und Schriftstellerei weiß. Sie kennt die ökonomischen Herausforderungen ihres Berufs sehr genau; in Ligurien ist sie nur dank eines Stipendiums.

So spiegelt sich die fiktive Autorin in ihrer Künstlerfigur Constantin, der sich ebenfalls mit finanziellen Problemen und der Frage herumplagt, ob er schnell mal eine Figur aus Pappmaché für eine Filmproduktion herstellen soll – obwohl er solche Auftragsarbeiten ablehnt.

In der Schmonzette mit dem Arbeitstitel „Damenwahl“ soll die legendäre Schauspielerin Alba Fantoni nach einer abgeschmackten Tanzszene zu Stein erstarren. Allmählich erschließen sich also die Hintergründe des Romananfangs: Der Regisseur des zweifelhaften Streifens sucht dringend einen Bildhauer, der ein Objekt herstellen kann, das die versteinerte Fantoni darstellt.

Constantin Avis lässt sich auf das Geschäft ein. Der Künstler ist sogar stolz auf sein Werk aus Pappmaché, das wie ein echter Achatstein aussieht und durchaus Ähnlichkeiten mit der Schauspielerin aufweist. Bester Laune besucht er das Film-Set, um dort zu erfahren, dass die Stummfilm-Diva gar nicht mehr vor der Kamera steht, sondern vom Tonfilmregisseur kurzerhand abserviert worden ist. Constantin kann es nicht fassen, dass alle außer ihm Bescheid wissen, sogar ein „Servierfräulein mit schriller Stimme“:

Ihre Zeit ist abgelaufen, wenn Sie verstehen, was ich meine.

Verrohung im Kulturbetrieb

Dana Grigorcea weiß die fehlenden Puzzlesteine der Erzählung im richtigen Moment ins Romanmosaik einzusetzen. Die Handlungsstränge, zwischen denen hundert Jahre liegen, werden dabei im Verlauf des Romans so eng miteinander verknüpft, dass die Zeit dazwischen durch die geschickte Komposition zu verschwinden scheint.

Eingeführte Metaphern tauchen in verwandelter Form immer wieder auf; Grigorcea verbindet Vergangenheit und Gegenwart durch signifikante Tiermotive oder mittels eines prächtigen Vorhangs, der durch die Zeiten flattert. Auch die Geschichten der Figuren werden epochenübergreifend erzählt: Dass beispielsweise Stummfilmstar Fantoni aus dem ligurischen Küstenort kommt, in dem Dora schreibt, ist kein Zufall, steht sie doch beispielhaft für eine Kultur, in der die alten Stars schnell vergessen werden.

Gegen den schlechten Stil der flüchtigen Moderne beschwört Grigorcea hingegen ein doppeltes Glück, nämlich in der Kunst und in der Liebe gleichermaßen abzuheben. Was keineswegs allen Figuren im Roman gelingt: Constantin wird zwar vor Gericht als Künstler anerkannt, seine Kreativität aber scheint er in einer oberflächlichen Beziehung zu verschwenden.

Dora hingegen wird ihren Roman zu Ende schreiben, weil sie sich für ein Leben mit dem richtigen Liebhaber entscheidet. Wie Vögel ein Maximalgewicht nicht überschreiten dürfen, um abheben zu können, wird auch sie im entscheidenden Moment unnötigen Ballast abwerfen, um sich und ihre Kunst zum Fliegen zu bringen.

Dana Grigorcea hat einen Roman über die Bedingungen der Möglichkeit von Liebe und Kunst geschrieben – und ganz nebenbei ein äußerst passendes Bild für die volatile Arbeit als Schriftstellerin gefunden. „Das Gewicht eines Vogels beim Fliegen“ lässt sich auch als Essay lesen, der undogmatisch über weibliche und männliche Kunstideale nachdenkt, der aktuelle Diskurse im Kulturbetrieb auf sehr amüsante Weise aufgreift und sie mit den Mitteln der Literatur unterläuft.

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