Gezeichneter Kriegsjournalismus

Chronik der Zerstörung: Nora Krug illustriert ukrainische und russische Kriegstagebücher

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Silke Arning
Moderatorin Silke Arning (Foto: SWR)
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Dominic Konrad

Ein Jahr lang hat sich die Illustratorin und Bestseller-Autorin Nora Krug wöchentlich vom Krieg in der Ukraine erzählen lassen, von einer Kiewer Journalistin und einem Künstler aus St. Petersburg. Ihre Berichte hat die in New York lebende Karlsruherin in unaufdringlichen und sensiblen Zeichnungen festgehalten – „Im Krieg. Zwei illustrierte Tagebücher aus Kiew und St. Petersburg“ heißt das Buch.

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Wöchentliche Gespräche mit einer Ukrainerin und einem Russen

Als sie die Nachricht vom russischen Einmarsch in der Ukraine hört, nimmt die Journalistin in Kiew erst einmal ein Bad. Eine halbe Stunde lang – völlige Schockstarre. Am selben Tag, 1.000 Kilometer weiter nördlich, meint der Künstler aus St. Petersburg: „Putin richtet mein Land zugrunde“. Er denkt ans Auswandern.

Ein Jahr lang hat sich die Comic-Autorin und -Illustratorin Nora Krug das Leben im und mit dem Krieg aus ukrainischer und aus russischer Perspektive beschreiben lassen. Die russische Sichtweise mit ins Boot zu holen, war ihr extrem wichtig, wenngleich ein durchaus heikles Anliegen:

„Das Ziel war jetzt nie, einen – in Anführungsstrichen – guten Russen zu zeigen, also einen Helden“, erklärt Nora Krug, „gleichzeitig aber auch keinen Putin-Unterstützer, einen Fanatiker. Sondern eher eine komplexe Perspektive zu zeigen eines Mannes, der gegen Putin ist und auch mutig genug ist, sich mir gegenüber ein Jahr lang dazu zu positionieren und der sich gleichzeitig eingesteht, dass er sich nicht traut, momentan auf Demonstrationen zu gehen.“

Alltagserfahrungen aus dem Kriegsgebiet

Einmal in der Woche hat Nora Krug von New York aus mit der Kiewer Journalistin K. und dem russischen Künstler D. Kontakt aufgenommen, um ihre Alltagserfahrungen abzufragen, die unterschiedlicher kaum sein konnten.

Nora Krug "Im Krieg" (Ausschnitt) (Foto: Pressestelle, Penguin Deutschland Verlag)
Wie der Krieg in der Ukraine ihre Perspektive auf alltägliche Situationen verändert hat, beschreibt eine anonymisierte ukrainische Journalistin in ihren wöchentlichen Gesprächen mit Nora Krug.

Nur wenige Wochen nach dem russischen Überfall auf die Ukraine wird der Freund und Kollege der Journalistin erschossen aufgefunden. Sie fährt aufs Land, um die Dorfbewohner zu filmen, die die russische Besatzung überlebt haben. Sie trifft auf Leute, die auf die ausgebombten Wohnungen aufpassen, um Plünderer abzuhalten.

Während die Ukrainerin ihren zunehmend verzweifelten Kampf ums nackte Überleben führt, quält sich der Künstler in St. Petersburg auf anderer Ebene mit ebenso existentiellen Fragen: Wie er eine Arbeitserlaubnis für Lettland bekommen könnte, ob die russischen Behörden sein Universitätsdiplom beglaubigen, damit er in Riga Arbeit finden kann, wie er seine Familie, die Kinder und den Hund mitnehmen kann, welche Route sich mit Auto und zu Fuß über die estnische Grenze anbietet.

Kleine, unerwartete Parallelitäten

Doch bei aller Unterschiedlichkeit waren da auch immer wieder ganz überraschende, kleine Parallelitäten. Zum Beispiel als sich die ukrainische Journalistin mit Haushalt und allen Reparaturen einfach überfordert sieht. 

„Und in derselben Woche hat der Russe seinen tropfenden Wasserhahn repariert in Sankt Petersburg“, erinnert sich Krug. „Und dann steht er aber in diesem Baumarkt, um ein neues Rohr für den Wasserhahn zu kaufen und stellt sich dann die Frage: Wie seltsam ist es eigentlich, dass hier alle Russen einkaufen gehen, um ihre Häuser zu reparieren, während wir gleichzeitig die Ukraine bombardieren und die Häuser und Wohnungen der Ukrainer zerstören. Dabei hat man gemerkt, wie das Alltägliche eben auch oft mit dem Philosophischeren vernetzt ist.“ 

Russland als Bedrohung, ukrainischer Hass

Mit dem Philosophischeren bezeichnet Autorin Nora Krug einen interessanten Effekt ihres wöchentlichen Abfragerituals. Neben der anstrengenden Alltagsbewältigung fangen beide Seiten an, tiefer über den Krieg nachzudenken, über Patriotismus und kulturelle Identität, über Fragen von Schuld und Verantwortung:

Nora Krug "Im Krieg" (Ausschnitt) (Foto: Pressestelle, Penguin Deutschland Verlag)
Während die Ukrainierin auf Frieden im eigenen Land hofft, versucht der russische Künstler, mit seiner Familie das Land zu verlassen.

„Also für den Russen war es ganz klar, dass die Russen natürlich schuldig sind und sich ihrer Schuld auch stellen werden müssen. Dass Russland auch finanziell am Wiederaufbau der Ukraine nach dem Krieg beteiligt sein müsste, dass sie finanziell das Ganze verantworten müssten, ohne sich aber einzumischen, wie das Land wieder aufgebaut werden sollte.“

Auch die Ukrainerin stelle sich Fragen über das zukünftige Nebeneinander: „Sie sieht es als große Bedrohung an, dass Russland immer der Nachbar der Ukraine bleiben wird und dass der Hass in ihrer Generation so groß ist, dass es schwierig sein wird, einen Dialog zu finden.“

Nora Krug betreibt „visuellen Journalismus“

„Im Krieg“ ist die kompakte und vollständige Ausgabe der illustrierten Tagebücher aus Kiew und St. Petersburg, die in Auszügen bereits in der Los Angeles Times erschienen sind. Visuellen Journalismus nennt Nora Krug ihre Arbeit.

Sämtliche Fakten und Ereignisse, die ihr aus der Ukraine und Russland übermittelt wurden, hat sie noch einmal sorgfältig geprüft. Immer in dem Bemühen, die Identität der Journalistin K und des Künstlers D zu schützen. Die wichtigsten Aussagen der Wochenberichte hat sie dann in einen Fließtext übersetzt und jeweils auf einer Doppelseite gegenübergestellt.

Ergänzt durch ihre Illustrationen, die den Text nicht einfach nur bebildern. In Nora Krugs Zeichnungen spiegeln sich die ganzen Emotionen, Ängste, Sorgen, Hoffnungen dieser beiden Menschen. Ohne aufdringlich oder übergriffig zu werden, schafft sie sehr persönliche Innenansichten. Bemerkenswert unaufgeregt und zugleich sehr sensibel.

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C. H. Beck Verlag, 128 Seiten, 20 Euro
Illustiert von Nora Krug
ISBN: 978-3-406-77760-8

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