Nell Zink – Das Hohe Lied (Foto: Pressestelle, Rowohlt Verlag; Copyright  Francesca Torricell)

Buch der Woche

Nell Zink - Das Hohe Lied

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AUTOR/IN
Carsten Otte

Nell Zink erklärt uns Amerika: In ihrem neuen Roman „Das Hohe Lied“ erzählt sie von drei Freunden, die in den Neunzigern zusammen Musik machen, 2001 den Angriff auf das World Trade Center erleben und sich schließlich mit dem Aufstieg von Donald Trump auseinandersetzen müssen.

Seit einigen Jahren lebt die amerikanische Autorin Nell Zink in Brandenburg. Die Distanz lässt sie ihr Heimatland umso schärfer in den Blick nehmen.

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Die Biografie der im US-Bundesstaat Virginia aufgewachsenen Schriftstellerin Nell Zink ist so abenteuerlich wie die Literatur, die sie schreibt.

Es gibt auf ihrem Lebensweg die erstaunlichsten Abzweigungen, was den Beruf und die Berufung, aber auch was die Orte angeht, in denen Zink gelebt und gearbeitet hat: nämlich Philadelphia, Tel Aviv, Tübingen und jetzt in der brandenburgischen Kleinstadt Bad Belzig.

Nell Zink lebt in Deutschland, schreibt aber in ihrer Muttersprache Englisch

Als Autorin bekannt geworden ist sie mit ihrem Debütroman „Der Mauerläufer“, und allein wie das Manuskript entstand, nämlich als eine Art Wetteinsatz mit dem Schriftstellerkollegen Jonathan Franzen, ist schon wieder Stoff für einen neuen Roman.

Auch wenn die Autorin in Deutschland lebt und sehr gut Deutsch spricht, schreibt sie ihre Bücher auf Englisch. Sie erscheinen dann zunächst in den USA und in Großbritannien, um dann mit etwas Verzögerung ins Deutsche übertragen zu werden.

Der Protagonist Joe Harris ist sprachlich und musikalisch hochbegabt

Am Anfang dieses so vielschichtigen Romans lernen wir Joe Harris kennen, und da es zum unverwechselbaren Stil der Autorin Nell Zink gehört, ihre Figuren ziemlich direkt und mit allen Widersprüchen vorzustellen, wissen wir schon nach den ersten Sätzen, dass Joe unter dem genetisch bedingten Williams-Syndrom leidet.

Er muss mit einem Herzfehler und einer gestörten räumlichen Wahrnehmung zurechtkommen, darf sich aber auch über seine sprachliche und musikalische Hochbegabung freuen.

Joe und sein Umfeld wissen nichts von seiner Erkrankung

Anders als die auktoriale Erzählerin – und wir als lesendes Publikum – weiß weder Joe noch sein Umfeld von der Krankheit, weil er nie auf das Syndrom getestet wurde.

(…) sein Talent, andere zu irritieren, war schier grenzenlos. Er sagte immer, was er dachte, und vertraute jedem, den er traf.

Dieser so sympathische wie seltsame Held verliert früh seine Mutter, wird vom Vater, einem Professor für amerikanische Geschichte, liebevoll durch die Schulzeit begleitet, und irgendwann in den späten 1980er Jahren lernt er in New York die Punkerin Pam und den Möchtegern-Independent-Musikmanager Daniel kennen.

Eine Punkband wird gegründet, doch im Fokus steht nicht die Musik

Zusammen gründen sie eine so mittelmäßige Band, dass bis auf Joe, der immer optimistisch bleibt, alle wissen, dass dieses Trio wohl eher nicht Musikgeschichte schreiben wird.

Pam arbeitet für eine EDV-Beratungsfirma, Daniel schlägt sich als Korrekturleser einer großen Anwaltskanzlei durch.

Job und Karriere sind den beiden allerdings weniger wichtig als ihr Lebensgefühl, das von viel Sex, allerlei Drogen, einer starken Dosis Selbstironie und dem Wunsch geprägt ist, möglichst viel Zeit mit Kunst und Musik zu verbringen.

„Marmalade Sky“ floppen und Joe versucht sich als Solomusiker

Da „Marmalade Sky“, so der Name ihrer skurrilen Band, wie erwartet nicht reüssiert, wollen Pam und Daniel zumindest die Solokarriere ihres Freundes unterstützen, dessen eigenwilliger Stil in den nun angehenden 90er Jahren ein wachsendes Publikum findet.

„Joe spielte durch zwei Verstärker – seinen eigenen neuen Bassverstärker und Pams Marshall –, und ein Whirlwind-Splitter trennte die Ausgangssignale. Der Effekt-Loop am Bassverstärker lief durch ihren MXR-Verzerrer. (…) Joes Stimme und das Mahlen der unzerstörbaren Aluminium-Lautsprechermembrane seiner wackeren Hartke-Box durchschnitten den Dunst aus Feedback, der von dem gequälten Marshall ausging, und er sang seine allerfeinsten Nonsense-Texte, als stünde seine Seele in Flammen.“

Joe schafft es mit seiner exotischen Musik in den Mainstream

Man muss kein Punkrock-Spezialist sein, um eine Ahnung zu bekommen, wie sich diese Musik anhören könnte. Joe jedenfalls entwickelt sich vom Independent-Geheimtipp zum Mainstream-Megastar.

Nell Zink gelingt es im ersten Drittel ihres Romans, diese Heldenreise mit einer so bissigen wie detailreichen Milieustudie des amerikanischen Musikbusiness zu verknüpfen, dass zeitweilig völlig unklar ist, auf was die kommenden zwei Drittel des Textes hinauslaufen werden.

Plötzlich rücken die Familienbeziehungen in den Mittelpunkt

Im entscheidenden Moment aber verschiebt sich der Fokus der Erzählung. Die mehr oder weniger dubiosen Charaktere aus der Indie-Szene treten in den Hintergrund, die Familienbeziehungen der Hauptfiguren werden wichtiger, auch weil Pam und Daniel ein Baby bekommen.

Die kleine Flora begeistert nicht nur Eltern und Großeltern, sondern eben auch Joe, der neben seinen Studio-Sessions und Live-Konzerten den Babysitter gibt.  

„Joe ging mit ihr spazieren, wenn er die Zeit dazu hatte. Ein Rockstar zu sein war kein Job, dem man am helllichten Tage nachging, und selbst wenn, hätte er nicht auf seine Spaziergänge verzichtet. Er lernte noch immer jeden Tag neue Freunde kennen. Sofern sie nicht an einen Ort gebunden waren, wie Verkäufer oder Obdachlose, oder sich einfach nicht abschütteln ließen, wie Pam und Daniel, wurden sie schon bald vernachlässigt, aber nie vergessen. Flora stand daneben, wenn er Psychotiker nach ihren offenen Beinen fragte oder, im selben Tonfall unbeteiligter Faszination, einen Eisverkäufer nach seinen Sorten. Er war blind für Klassenunterschiede und kannte keine Grenzen, die er selbst hätte ziehen können.“

Am 11. September 2001 stirbt Joe durch eine Überdosis Heroin

Dieser Mann, der singend und dauerredend mit Flora durch die Straßen New Yorks zieht, ist nicht nur für das Mädchen ein role model.

Joe erfüllt erzähltechnisch auch eine wichtige Spiegelfunktion für die Lebensläufe von Pam und Daniel. Umso erstaunlicher, dass Nell Zink ihn mitten im Roman und ausgerechnet am 11. September 2001 an einer Überdosis Heroin sterben lässt.

Der Tod stellt einen Wendepunkt dar

Dieser krasse Wendepunkt ist aber keineswegs Effekthascherei, er verleiht dem folgenden Geschehen vielmehr einen weiteren Subtext, der von der Schwierigkeit handelt, Wahrheit und Lüge auseinanderzuhalten.

Pam und Daniel erzählen Flora nämlich nicht, wie Joe gestorben ist, so wie sie ihrem Kind auch vorenthalten, dass die liebe Großmutter Ginger ihre Tochter Pam einst verprügelt hat.

Die alternativen Familienverhältnisse Floras prägen sie

Flora wächst in behüteten und zugleich alternativen Familienverhältnissen auf, die sie zeitlebens prägen werden. Ihre Entscheidungen, mögen sie noch so merkwürdig oder gar moralisch zweifelhaft sein, hält sie grundsätzlich für gut und richtig.

Flora ist nicht nur ein digital native, sondern lebt auch ziemlich naiv in ihrer politischen Blase. Sie will die Welt retten, arbeitet für den Wahlkampf der amerikanischen Grünen und bemerkt zu spät, dass ihr Engagement dem politischen Feind hilft.

Zink legt die Lebenslügen dreier Generationen offen

Genüsslich legt Nell Zink die Lebenslügen der geschilderten drei Generationen offen, ohne dabei die Figuren grundlegend zu beschädigen.

Die zahlreichen Pointen in den kurzen und temporeich erzählten Episoden, die zwischenzeitlich sogar in Äthiopien spielen, verfolgen dabei keinen Selbstzweck.

Die allgegenwärtige Ironie, vor allem in den rasanten Dialogen, zeigt auch den grundlegenden Defätismus all jener, die sich für fortschrittlich halten.

Der Familienroman wird zu einem politischen Drama

Daniel kann dem grünen Aktivismus seiner Tochter jedenfalls nur mit politischem Galgenhumor begegnen, über den sich Flora wiederum amüsiert.  

„Wenn sie ihrem Vater von den Grünen erzählte, reagierte er mit surrealen Warnungen vor dem Tag des Zorns und den gut organsierten Milizen des Zweiparteiensystems. (…) Sie machte Screenshots seiner amüsantesten Nachrichten und zeigte sie ihren Freunden.“

Aus dem Familienroman entwickelt sich schließlich ein politisches Drama. Donald Trump, der Mann, dem nichts heilig ist, wird nicht zuletzt mit Hilfe von Leuten Präsident, die ständig das hohe Lied der Religion anstimmen.

Trumps Präsidentschaft sorgt bei Pams Vater für Resignation

Pams Vater ist ein strenggläubiger Republikaner, und als er begreift, dass Trump auch im höchsten Amt als rücksichtsloser Wüterich auftritt, zieht er sich resigniert mit einer Eisenhower-Biografie zurück in den Lehnstuhl.

Wahrscheinlich wird er aber auch bei der nächsten Wahl für Trump stimmen. Weil die alten Freund-Feind-Schemata eben doch wirkmächtiger sind als die Einsicht, einen Fehler zu machen.

Pam und Daniel stehen den politischen Veränderungen nicht minder ratlos gegenüber. Weil sie, wie so viele in ihrer Generation, die den angeblich so coolen Eighties nachtrauern, sich vor allem ums eigene Wohlergehen kümmern.

Auch die Lügen des Weißen Hauses werden entlarvt

So witzig Nell Zink zu erzählen vermag, so deutlich ihre politische Analyse: Der Erfolg der Lügenpropaganda aus dem Weißen Haus ist auch mit den starren Familienmustern und festgefügten gesellschaftlichen Rollen jener US-Bürger zu erklären, die sich als Gegner des grassierenden Trumpismus begreifen.

Statt die Widersprüche zu erkennen und Konsequenzen zu ziehen, verkennt das Bürgertum in den USA, ob liberal, links oder konservativ, noch immer die Gefahr und die Macht der trumpistischen Barbarisierung.

Der Roman ist ein politisches Hohelied auf die Liebe

„Das Hohe Lied“ ist Nell Zinks bislang stärkster Roman, weil sie in diesem Buch die für sie so typische Crash-Ästhetik etwas zurücknimmt (zum Glück nicht zu viel), weil sie den Humor auch für eine nuancenreiche Figurenzeichnung nutzt und weil sie einmal gesetzte Themen auf erstaunlich vielen Ebenen durchspielt.

Die verdrehten Liebeslieder, die Joe einst sang, klingen noch einmal an, wenn Nell Zink schließlich mit einem bewusst herzzerreißenden Finale überrascht.

Dieser Roman ist ein politisches Hohelied auf die Liebe, dass sich gegen die Hasstiraden in jenem Land wendet, in dem die Schriftstellerin aufgewachsen ist und das sie nun in sicherer Distanz auf erhellende und unterhaltsame Weise beschreibt.   

 

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Carsten Otte