Die junge Fabienne ist gerade mit ihrem Freund am Mittelmeer angekommen - da reißt ein Unfall ihn aus dem Leben. Der Comic-Autor Lewis Trondheim und der Zeichner Hubert Chevillard erzählen in ihrer Graphic Novel "Ich bleibe" eine berührende Geschichte über Trauer und Emanzipation.
Aus dem Französischen von Lilian Pithan
Avant Verlag, 128 Seiten, 24 Euro
ISBN 978-3-96445-089-0
Hubert Chevillard wurde 1962 geboren, Lewis Trondheim im Jahr 1964. Beide verfügen über lange Erfahrung als Grafiker und Texter und haben schon einiges im Bereich "Comic" veröffentlicht. Jetzt haben sie gemeinsam eine Graphic Novel verfasst, die in Frankreich im vergangenen Jahr mit dem "Francomic-Preis" ausgezeichnet wurde: "Ich bleibe" - Silke Merten.
Der Schock ist kolossal. Weder die Hauptfigur Fabienne noch wir Lesenden sehen das Unheil kommen. Denn die ersten zwei Seiten der Graphic Novel "Ich bleibe" zeigen pure Sommer-Idylle. Sonnenschein und Strandleben unter einem milchig blauen südfranzösischen Himmel – die Bilder leuchten in den fürs Mittelmeer typischen warmen Farben.
In einem Feriendorf bei Montpellier sehen wir Fabienne mit ihrem Freund Roland aus dem Auto steigen – ein Paar wie viele, er um die 40, sie Ende 20, schmal, rotblond, unauffällig. Sie wollen noch einen Spaziergang machen, bevor es ins Urlaubsappartement geht. Doch plötzlich tobt eine heftige Böe über die Strandpromenade. Drei Bilder weiter kommt Roland ums Leben.
Der Autor Lewis Trondheim und der Zeichner Hubert Chevillard nutzen unseren Schrecken als Folie für ihre Graphic Novel "Ich bleibe". Der Schock stellt uns auf eine Stufe mit der zurückgebliebenen Fabienne. Nur irritieren die Comic-Erzähler uns gleichzeitig, weil die sich nicht wie eine trauernde Witwe verhält. Sie kümmert sich nicht um die Beerdigung, bleibt allein im Feriendorf und beginnt mit den Aktivitäten, die Roland vorab minutiös im Kalender geplant hat.
Der Titel "Ich bleibe" deutet schon an, dass hier keine klassische Trauerbewältigung erzählt wird. Er verrät Entschlossenheit. Tatsächlich enthält Fabiennes Weigerung, die Pflichten einer Hinterbliebenen zu übernehmen und mit anderen über den Tod zu reden, auch eine Botschaft: Ich gehe meinen eigenen Weg, ohne euch. Dabei wirkt sie alles andere als gefühllos.
Trondheim und Chevillard verstehen es, in wenigen Bildern ihre Trauer mitschwingen zu lassen. Nur einmal lassen sie Fabienne innehalten und die Hände vors Gesicht schlagen – respektvoll aus der Distanz beobachtet. Und wenn sie immer wieder ihr hell erleuchtetes Zimmer inmitten des nächtlichen Häusermeers zeigen, verrät das mehr von Fabiennes schlafloser Verstörtheit als Tränen es könnten.
Ihren Verlust lassen die beiden Erzähler umso größer wirken, weil sie das sommerliche Leben um sie herum einfach weitergehen lassen. Immer getaucht in das warme Licht des Südens - was die Tragödie seltsam unwirklich werden lässt. Fabienne besucht Stierkampf, Kunsthandwerkermarkt und Volkstanz. Unter all den Paaren, Familien und Freundeskreisen ist sie so allein wie eine Figur nur sein kann. Aber nicht einsam.
Das zeigt sich, als sie Bekanntschaft mit einem Einheimischen schließt. Der ältere Paco neckt die junge Frau und merkt schnell, dass mit ihr etwas nicht stimmt. Väterlich bietet er seine Gesellschaft an, doch bei aller gegenseitigen Sympathie - wann immer es persönlich wird, entzieht sich Fabienne. Nur wir Lesenden erfahren durch ihre Antworten auf Pacos Fragen: Glücklich war sie nicht in ihrer Beziehung. Was ihr Leben als Paar betraf, bestimmte bislang Roland. Was schon das Titelbild andeutet. Es zeigt im Vordergrund die Beine eines Mannes, eine fast aufdringliche physische Präsenz - dahinter in ihrem Schatten sitzt Fabienne, kaum sichtbar. Erst im letzten Drittel der Graphic Novel ist sie allein in großformatigen Bildern am Strand zu sehen – und beginnt zu leuchten.
Und so wird die Geschichte einer ungewöhnlichen Trauerphase zu der einer Emanzipation. Dass die sprunghaft verläuft und dass nie vorhersehbar ist, was als nächstes passiert, zeigt wieder einmal, was für ein großartiger Erzähler der Franzose Lewis Trondheim ist. Eigentlich bekannt für seine Fantasy-Comics und Cartoons, schreibt er in den letzten Jahren auch Szenarios, die dann Zeichnerkollegen umsetzen.
Seine Fabienne ist still, aber selbstbewusst, zugewandt in einem Moment und abweisend im nächsten. Erstaunlich, dass der Zeichner Hubert Chevillard ausgerechnet ihr das simpelste Gesicht aller Figuren in der Graphic Novel gibt. Während alle anderen Grübchen oder Falten, große oder kleine Nasen, volle oder schmale Lippen haben, deuten bei ihr nur Striche und Punkte Augen, Nase und Mund an. Trotzdem zeichnet sich jedes Gefühl in ihrem Gesicht klar ab. Der Wechsel zwischen Verblüffung, leisem Schmerz und schließlich Gelöstheit wirkt nach dem Lesen noch lange nach.