Buchkritik

Katrin Seddig – Nadine

Stand
AUTOR/IN
Theresa Hübner

Nadines Tochter Mizzi hat sich umgebracht. Jetzt versucht Nadine zu verstehen, was schiefgelaufen ist, schaut zurück auf ihr eigenes Leben. Immer wurde sie zurechtgestutzt, musste sich anpassen und unterordnen, vor allem dem tyrannischen Vater. Doch damit ist jetzt Schluss. Nadine lässt sich nichts mehr gefallen. Nadine ist wütend und rächt sich an der Welt.

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Mizzi ist tot.

Mizzi ist Nadines Tochter, sie hat sich umgebracht, ihren hübschen Kopf auf Zugschienen gelegt und gewartet. Nadine ist noch da, ihr Leben ist noch da, und natürlich ist Nadine traurig, sie hat ihre Tochter geliebt, aber die Art, wie Nadine trauert um ihre tote Tochter, die ist, so sagen die Menschen um sie herum, irgendwie seltsam.

„Man merkt dir kaum etwas an. Du fährst zur Arbeit, du gehst einkaufen, du hast sogar Mizzis Sachen schon aussortiert. Bist ja gleich wieder ins Büro gefahren, als könntest du es kaum erwarten“
„Aber Frank. Ich muss doch arbeiten!“
„Tut mir leid. Ich wollte dir keine Vorwürfe machen.“
„Hat sich aber so angehört.“
„Es tut mir leid“
„Was soll ich denn machen, deiner Meinung nach? Wie soll ich denn sein?“

Nicht mal richtig trauern kann sie. Kalt wirkt Nadine, die doch das schlimmste überhaupt, den Verlust des eigenen Kindes erlebt hat, auf ihr Umfeld.

Aber das stimmt nicht, Nadine ist nicht kalt, sondern es brodelt in ihr. Nadine ist wütend, richtig wütend, vor allem auf bestimmte Männer in ihrem Leben – ihren Chef Wiedenberg zum Beispiel.

Er ist ein Reh.
Wenn sie ein Mann wäre, wäre sie kein Reh, sie wäre ein Bär.
Trotzdem aber ist Wiedenberg ein Mann, lebt das Leben eines Mannes, (..) verdient das Geld eines Mannes, es macht sie wütend! Alles an ihm macht sie wütend!

Ihr ganzes Leben war Nadine irgendwie „nicht richtig“. Sie wächst bei ihrem Vater auf, die Mutter verlässt die Familie früh. Der Vater ist mit dem Kind überfordert, zwar schlägt er sie nie, misshandelt sie aber auf andere Art. Immerzu ist er, wenn Nadine nicht so funktioniert, wie gewünscht, „tief enttäuscht“. Dann bricht er, dieser große, kräftige Mann, Beruf Bäcker, Hobby die Jagd, dann bricht dieser Kerl in Tränen aus.

Nadine muss lernen, richtig zu gehen, nicht so komisch, lernen, richtig zu sprechen und vor allem: sich zu beherrschen. Aber Nadine tanzt aus der Reihe, haut andere Kinder, kriegt ihre Wut nicht in den Griff - und wenn das „Vergehen“ der Tochter besonders schlimm ist, dann sperrt ihr Vater Nadine in den Kühlraum für das erlegte Wild.

Sie saß an der gefliesten Wand und schlug ihren Kopf dagegen.
Irgendwann öffnete ihr Vater die Tür: „Nadine, was machst du da?“
Ihre Haare waren schon klebrig vom Blut.
Ihr Vater sagte: „Nadine, denk nicht, dass ich mich erpressen lasse. Mach nur weiter so, dann sitzt du noch länger drin.“
Als er sie herausließ, fragte er, wie er es immer tat: „Hast du etwas gelernt, Nadine?“

Als nun also die erwachsene Nadine ihre Tochter Mizzi verliert, wird etwas in ihr freigesetzt, etwas, das sie über viele Jahrzehnte unterdrückt hat. Nadine schaut zurück auf ihr Leben, von den 70ern bis zur Corona-Zeit. 

Schon rein körperlich passte Nadine nie ins Schema, zu groß, zu kräftig, die Stimme zu laut, die Manieren zu ungehobelt. Immer wird ihr gesagt, sie solle doch bitte schön etwas weniger präsent sein, ein bisschen mehr weibliche Zurückhaltung, ein wenig zierlicher, feiner, das wäre doch schön.

Diese ständige „nicht richtig sein“ macht aus der kleinen, unsicheren Nadine, eine erwachsene, unsichere Frau. Angepasst, äußerlich ganz unauffällig. Heiratet ihren Logopäden, wird Rechtsanwaltsgehilfin, bekommt ein Baby, Mizzi. Doch nichts davon tut sie aus Leidenschaft, sondern, weil man es eben so macht. Keine Entscheidung in ihrem Leben trifft Nadine aus Überzeugung, sie hat das Gefühl dafür verloren, wer sie ist und was sie will.

Katrin Seddig erzählt all das in Rückblenden, wechselt geschickt zwischen Vergangenheit und Gegenwart hin und her, und weil sie eine brillante Erzählerin ist, sind diese Zeitsprünge nie hektisch, sondern angenehm fluide.

Brillant ist auch, wie genau Katrin Seddig nicht nur ihre Heldin, sondern auch die Charaktere in Nadines Umfeld beschreibt. Von ihrem herrischen Vater, über Mizzis phlegmatischen Mann, bis hin zu ihrem charakterschwachen Chef, werden sie alle so präzise umrissen, dass man meint, doch selbst genauso einen Typ Mensch irgendwie selbst zu kennen.

Katrin Seddig analysiert ihre Figuren dabei wertfrei, ganz klar und sehr präzise, sie zeigt die Verletzungen und Wunden, verschweigt aber auch Charakterschwächen nicht.

Und sie alle bekommen die neue, die wütende Nadine zu spüren – denn jetzt teilt Nadine aus – verbal und körperlich. Nadine zügelt sich nicht mehr - auch nicht beim Essen:

Sie spricht mit sich selbst, als sie die Brotdose öffnet, sie muss es zu sich selbst sagen: „Nadine, jetzt haust du aber ganz schön rein.“
Und obwohl sie sich vielleicht besser verachten sollte, obwohl sie vielleicht weiß, dass sie einen seltsamen Weg eingeschlagen hat, ist sie sich selbst wieder näher. Betastet sie mit zorniger Lust und einem Hauch von höhnischer Zuneigung sogar jeden Morgen im Badezimmerspiegel ihren langsam anschwellenden Körper.

„Nadine“ von Katrin Seddig ist ein Buch darüber, was mit einem Menschen passiert, wenn er sich nie selbst finden, nie entfalten darf. Man darf diesen Roman durchaus als einen feministischen lesen, die Figur „Nadine“ stellvertretend dafür betrachten, in welche Rollen Frauen gedrückt wurden und werden – und was das mit ihnen macht.

Mitleid aber braucht Nadine nicht, dafür sorgt schon Katrin Seddigs angenehm nüchterner, völlig kitschfreier Stil. Diese Frau ist eine Urgewalt, komplex, wie starke Frauen eben sind, dabei nicht immer fair – aber das ist die Welt ja auch nicht.

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